Der Feuerstein
Wänden, ganze Stapel von Pergamenten, die kopiert werden sollen, hölzerne Schränke, in denen sich die ältesten, lichtempfindlichsten Schriftstücke befinden, und mir wird klar, dass ich ihn dazu gebracht habe, gegen gleich noch einen Grundsatz seiner Berufung zu verstoßen. »Es tut mir so leid«, sage ich
und deute auf die Kerze. »Ich habe nicht nachgedacht. Ich weiß, dass Kerzen in Kopierzimmern nichts zu suchen haben.« Zu Hause galt die Regel, dass nur bei Sonnenlicht gearbeitet werden durfte, denn nur zu leicht hätte es geschehen können, dass jemand nach langen Stunden des Abschreibens eine Lampe oder Kerze umgestoßen hätte. Mein Hals und mein Nacken laufen rot an, so peinlich ist es mir.
»Elisa. Was ist denn? Was ist der Grund für dieses heimliche Treffen?«
Als ich den Blick hebe, sind seine Augen so voller Mitgefühl, dass ich ungestüm herausplatze: »Ich brauche Hilfe. Ich muss wissen, was es mit dem Feuerstein auf sich hat.«
Ein Lächeln breitet sich über sein Gesicht. »Das hatte ich bereits vermutet. Ich werde gern versuchen, Euch zu helfen.«
Meine Erleichterung ist so groß, dass ich kaum das Zittern meiner Unterlippe unterdrücken kann. »Wirklich?« Es ist einfach überwältigend, dieses Gefühl, dass mir tatsächlich jemand helfen will.
»Wirklich. Wärt Ihr hier geboren worden, in Brisadulce, dann wäre es meine Aufgabe gewesen, Euch über alles in Kenntnis zu setzen, was mit dem Feuerstein zusammenhängt. Und daher werden wir ausführlich über alles sprechen, während wir die Kerze sorgfältig im Auge behalten.« Ein winziger Hauch von Ironie schwingt in seinem Ton mit. »Und jetzt sagt mir – was wisst Ihr bereits darüber?« Im Kerzenlicht wirken seine Augen noch durchdringender, seine Nase ist scharf geschnitten wie ein Schnabel. Sein Eifer ist ansteckend, und mehr denn je erinnert er mich an meinen alten Tutor.
Ich hole tief Luft. »Ich kenne alle Passagen in der Scriptura Sancta auswendig, die sich auf den Feuerstein oder den
Träger beziehen. Von daher weiß ich, dass Gott in jedem Jahrhundert ein Kind zur Erfüllung einer Aufgabe erwählt.« Plötzlich merke ich, dass meine Finger gewohnheitsmäßig zum Stein in meinem Nabel gewandert sind. »Ich weiß, dass Gott dieses Ding während meiner Namensgebungszeremonie in mich hineingesteckt hat. Ich fühle, wie es nun in mir lebt, wie es pocht wie ein zweiter Herzschlag. Manchmal reagiert es auf bestimmte Dinge, gelegentlich auch so, dass ich es nicht verstehe. Vor allem reagiert es auf meine Gebete.«
Er nickt, während ich spreche. »Und die Geschichte des Feuersteins? Was wisst Ihr darüber?«
»Abgesehen von mir selbst stammte nur einer der auserwählten Träger aus Orovalle. Das war vor vierhundert Jahren, kurz nach der Besiedlung unseres Tals. Alle anderen waren aus Joya.«
»Wisst Ihr etwas über die Art und Weise der Aufgabe, um die es geht?«
Ich zucke mit den Schultern. »Nur, dass es etwas Großes und Wunderbares ist …« Mit den Händen mache ich eine Bewegung, um einen Begriff zu umschreiben, der enorm groß zu sein scheint, aber trotzdem für mich wenig greifbar bleibt. »Davon abgesehen wohl nicht allzu viel. Als ich heranwuchs, hat man mir immer wieder gesagt, dass ein großes Schicksal auf mich wartet. Die Leute scheinen alle zu glauben, ich würde irgendwie eine … Heldin werden.« Röte steigt mir in die Wangen. Es ist albern, und ich spähe ins Dämmerlicht in der Erwartung eines spöttischen Blicks aus seinen scharfen Augen. Aber es ist zu dunkel, um etwas zu erkennen.
»Und der erste Träger aus Orovalle – wisst Ihr, welche
Aufgabe er erfüllt hat?«
»Natürlich. Hitzedar der Bogenschütze. Mein Vater wurde nach ihm benannt. Während der ersten Kämpfe meines Landes gegen Invierne hat er vierunddreißig Männer getötet, darunter den Animagus, der den Angriff führte. Er war …« Ich blicke auf meine Hände. »Er war sechzehn Jahre alt.«
Vater Nicandro schweigt einen Augenblick, in Gedanken versunken. Dann fragt er: »Habt Ihr Homers Afflatus gelesen?«
Mein verständnisloser Blick ist ihm Antwort genug.
»Das hatte ich befürchtet«, seufzt er.
»Befürchtet? Was denn? Was ist Homers Afflatus?«
»Homer war der erste Träger. Die Überlieferung zufolge gehörte er zur ersten Generation derer, die in der neuen Welt geboren wurden.«
Von Homer habe ich noch nie gehört. Wie konnte man mir etwas so Wichtiges wie den ersten Träger verschweigen? »Und dieser … Afflatus?« Der
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