Der Feuerstein
Feuerstein erwärmt sich leicht bei dem Wort.
»Es war seine Aufgabe. Der Geist Gottes ergriff von ihm Besitz, und er schrieb den Afflatus, eine Sammlung von Prophezeiungen. Sie betreffen unter anderem den Feuerstein.«
Meine Hände sind eiskalt, und ich atme heftig und stoßweise. Der Feuerstein verströmt eine so pulsierende Wärme, dass gleich darunter Übelkeit zu lauern scheint. »Prophezeiungen«, flüstere ich. »Ein heiliger Text. Davon habe ich nie gehört. Ich habe nie …« Mit einem Ruck stehe ich auf. »Die Menschen in Orovalle, sie wissen nichts davon.« Unruhig wandere ich zu den Regalen hinüber und wieder zurück.
»Hoheit …«
»Sie sollten davon erfahren. Habt Ihr den Text hier? Ximena könnte eine Abschrift für das Kloster zu Amalur fertigen. Meister Geraldo würde sicher gern …«
»Elisa!«
Die Schärfe in seiner Stimme lässt mich aufsehen.
»Hoheit«, sagt er nun sanft. »Sie wissen schon davon.«
Es dauert einen Augenblick, bis ich begreife. Dann breitet sich ein Schmerz wie Feuer in meiner Brust aus. »Wer genau weiß schon davon?« Ich glaube die Antwort bereits zu kennen, aber ich muss es aus seinem Mund hören.
»Alle.« Seine Lippen formen einen dünnen Strich, bevor er fortfährt: »Es tut mir leid, Hoheit. Alle außer Euch wissen es.«
9
E s ist, als hätte jemand mit einem Ruck einen Schleier weggezogen, der über meinem bisherigen Leben lag. Es erklärt so vieles. Das Verstummen der Gespräche, wann immer ich einen Raum betrat. Die verstohlenen Blicke, die zwischen meinem Tutor und meiner Schwester hin und her gingen. Geflüster hinter vorgehaltener Hand. Beruhigende, belanglose Worte, vorgetragen mit besorgtem Blick. Ich führte das bisher stets auf die Verachtung zurück, die mir die Welt entgegenbrachte, weil ich meiner Schwester so gar nicht ähnlich bin. Weil ich dick bin.
Ein Gefühl der Erniedrigung kriecht langsam wie wimmelnde Würmer in mir hinauf. Ich war eine hervorragende Schülerin, mir sind winzige Kleinigkeiten aufgefallen, ich habe Logikrätsel gelöst, mir Informationen eingeprägt. Das war es, worauf ich stets stolz war.
Aber wie leicht habe ich mich hinters Licht führen lassen. Was war ich für ein dummes, dummes Kind.
»Hoheit?« Nicandro klingt vorsichtig, besorgt.
»Warum?«, flüstere ich. »Wieso hat man all das vor mir verborgen?«
»Setzt Euch.« Er deutet auf den Hocker. »Wenn Ihr so hin und her geht, macht Ihr einen alten Mann ganz nervös.« Sein Blick wandert zur Kerze, als ich mich füge, dann sagt er fröhlich: »Wir werden vielleicht noch eine zweite brauchen.«
Ich lasse mich nicht von seiner guten Laune anstecken. »Erzählt es mir.«
Er stützt sich auf den Tisch. »Als die Anhänger der Vía-Reforma Joya verließen, um sich in Orovalle niederzulassen, hatten sie vor allem ein Ziel vor Augen.«
Das weiß ich bereits. »Gott zu finden.«
Er nickt. »Sie glaubten – und glauben immer noch –, dass es das höchste Streben aller Menschen sein sollte, die heiligen Texte zu studieren. Sie waren davon überzeugt, dass die zunehmend gottlose Welt die göttliche Wahrheit verwässert hatte, die nun auf ihre Wiederentdeckung wartete. Das zweithöchste Streben der Menschen ist …«
»Das Dienen.«
Er nickt wieder. »Ja, die Erfüllung einer Aufgabe. Also verließen sie das Land, und als einige Jahre später feststand, dass der nächste Träger aus Orovalle stammte, werteten sie das als Zeichen göttlicher Zustimmung.«
»Was hat all das mit Homers Afflatus zu tun?«
»Nur Geduld. Ich gehe davon aus, dass die königliche Familie der Vía-Reforma treu geblieben ist?«
»Natürlich.« Meine Familie hat stets voller Stolz betont, dass meine Vorfahren keine Angst vor der Wahrheit hatten.
»Wie die meisten Bewegungen war auch diese zu Anfang von edelsten Motiven geprägt. Das Bedürfnis, zum Weg Gottes zurückzufinden, war echt. Aber die Bewegung wuchs, veränderte sich und entwickelte sich … zu etwas anderem.«
Ich bin zwar zornig auf meine Schwester, auf Meister Geraldo und vor allem auf Ximena, weil sie alle mir so viel verschwiegen haben, doch will ich den Gedanken dennoch einfach nicht zulassen, dass mein Glaube in Gänze fehlgeleitet war. »Erklärt mir das bitte.« Die Warnung in meiner Stimme ist unüberhörbar.
»Sie studierten die Texte. Oh ja, das taten sie. Das führte schließlich zu einer sehr stolzen Haltung – sie verstanden die heiligen Schriften besser als irgendjemand sonst, und das wussten sie.
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