Der Feuerstein
Diese gründliche Beschäftigung mit den Schriften wurde zu einer Art kulturellen Besessenheit. Sie entdeckten Wahrheiten, die … geringeren Augen verborgen blieben.«
Diese Haltung zu verteidigen, fällt mir leicht. »Das ist auch ganz schlüssig. Es ist wesentlich leichter, die Scriptura Sancta oder die Allgemeine Lehre ergebenen Dienens zu verstehen, wenn man sie wirklich intensiv studiert. Wie heißt es schon in der Sancta: ›Tiefes Studium führt zu tiefem Verständnis. ‹«
»Das ist wahr«, räumt Vater Nicandro nachsichtig lächelnd ein. »Aber es heißt auch: ›Der Geist Gottes ist ein Mysterium, das kein Mensch je ganz und gar verstehen kann.‹ Wisst Ihr, sie gingen zu weit. Sie wandten sich von der offensichtlichen, natürlichen Deutung der Texte ab und suchten nach der verborgenen, unnatürlichen. Ihre kostbare Wahrheit wurde verdunkelt von Hochmut und elitärem Denken.«
»Könnt Ihr mir ein Beispiel nennen?«
Er steht auf und taucht in die Düsternis zwischen den Bücherregalen. Ich höre, wie er einzelne Schriftrollen hervorzieht, vor sich hin murmelt und schließlich leise wieder
zurückkehrt. Ein seltsamer Geruch geht ihm voraus, der muffige, an Tierhäute erinnernde Hauch großer Geheimnisse.
»Das hier«, erklärt er und breitet eine Schriftrolle auf dem Tisch aus, »ist Homers Afflatus.« Die Ränder versuchen, sich wieder einzurollen, und Vater Nicandro hält sie mit dem Unterarm fest. Mit der freien Hand deutet er auf einen Absatz in der Mitte des Textes. »Hier. Lest das.«
Die Kerze spendet nur wenig Licht, die Schrift windet sich unruhig über das weiche Pergament, und ich bin so müde. Seufzend reibe ich meine Augen und senke den Kopf, um besser zu sehen.
Und Gott erwählte sich unter den Menschen einen, der für ihn stritt. Dies geschieht in vier Generationen stets einmal. Er erhob ihn mit seinem Zeichen.
(Der Steinträger fürchte sich nicht.)
Aber die Welt erkannte ihn nicht, und seine Bedeutung war versteckt, er blieb verborgen wie die Wüstenoase von Barea. Viele suchten nach dem Steinträger, oft taten sie dies aus bösem Willen.
(Der Steinträger schwanke und wanke nicht.)
Er konnte nicht wissen, was an den Toren des Feindes seiner harrte, und er wurde wie ein Kalb zur Schlachtbank ins Reich der Hexerei geführt. Aber die rechtschaffene rechte Hand Gottes ist stark und mächtig.
(Seine Gnade erstreckt sich auf Sein Volk.)
Nachdenklich lehne ich mich zurück. Es klingt wahr, was in diesem Absatz steht, das spüre ich in meinem Herzen, und der Feuerstein antwortet mit einem sanften Vibrieren. Aber
es steckt auch etwas Neues in diesem Text, und ich warte, bis die Worte in meinen Verstand eingedrungen sind. Das Reich der Hexerei. Die Tore des Feindes.
»Wieso hat meine Vía-Reforma-Familie das vor mir verborgen?«
Vater Nicandro beugt sich lächelnd vor. Wie alle guten Lehrer liebt er den Augenblick der Enthüllung, wenn das Licht des Wissens auch seinem Schüler zuteilwird. »Der Dreh- und Angelpunkt ist dieses Wort hier.« Er deutet auf den Absatz und liest vor: »›Er konnte nicht wissen, was an den Toren des Feindes seiner harrte …‹ Konnte. Ein winziges Wort. Die natürliche Deutung des Textes legt nahe, dass der Steinträger aus welchen Gründen auch immer nicht weiß, welche Gefahren ihn erwarten.«
Ich nicke. So hätte ich es auch gelesen.
»Aber!« Er hebt den Zeigefinger. »Es gibt noch einen anderen Absatz: ›Jener, welcher Dienst und Pflicht erfüllt, darf niemals die reine Absicht verlieren . ‹«
Diese Worte sind mir gut bekannt. Sie stammen aus der Allgemeinen Lehre ergebenen Dienens. Es ist eines von Ximenas Lieblingszitaten.
»Zwei verschiedene Bedeutungen«, fährt Nicandro fort. »Konnte nicht – darf nicht. In der Originalsprache steht allerdings beide Male derselbe Ausdruck: Né puder. Unsere Vorväter entschlossen sich jedoch, weshalb auch immer, ihn verschieden zu übersetzen. Die Anhänger der Vía-Reforma halten die erste Übersetzung für einen Fehler. Sie sind der Überzeugung, dass es statt ›er konnte nicht wissen‹ vielmehr heißen sollte, ›er darf nicht wissen, was seiner harrte‹.«
»Sie glauben also, es bedeutet, dass der Träger nichts von
der Gefahr erfahren soll. Eine Anweisung, keine Feststellung.«
»Ganz genau.«
»Und deswegen ließ man mich in Unkenntnis.«
»Ja.«
»Wegen eines Wortes.«
Er zuckt mit den Schultern. »Es gibt andere Passagen, die gern bemüht werden, um die Auffassung der Vía-Reforma
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