Der Feuerstein
ungewöhnlichsten Stunden. Unsere Küche hat daher nie geschlossen.«
Und so kehre ich wenig später mit zwei Granatapfelküchlein – eines in meiner Tasche, das andere in meiner Hand – verstohlen zu meinem Zimmer zurück. Das neu gewonnene Wissen arbeitet in mir, als ich durch die stillen, fackelerhellten Korridore schreite und an meinem Kuchen knabbere: Homers Afflatus, die gescheiterten Träger, die mir vorangegangen sind, die Beschützerin, getarnt als Kinderfrau.
Die Tore des Feindes.
Als ich das Treffen mit dem Priester plante, hoffte ich darauf, etwas zu erfahren, das mir bei den Machtspielchen in Joya d’Arena einen Vorteil verschaffen und mich für Alejandro wertvoll machen würde. Und nun liegen noch mehr Schatten über meinem Weg als zuvor.
Wie ein Kalb zur Schlachtbank.
Plötzlich erscheint es schon eine schwere Aufgabe, einfach nur zu überleben.
Als ich um die letzte Ecke biege, bleibe ich wie angewurzelt stehen – gerade noch rechtzeitig, damit keine Krümel auf das grob gewebte Kattunkleid geraten, das plötzlich vor mir aufragt.
»Elisa!« Ximena umarmt mich stürmisch, und mein Kuchen wird nun doch gegen ihr Gewand gedrückt. Sie packt mich an den Schultern und hält mich ein Stück von sich weg. »Wo warst du?« Ihre Stimme ist hart vor Angst und Zorn.
Ich halte den halb aufgegessenen Kuchen hoch. »Ich hatte Hunger.«
»Oh, Elisa. Mein Himmel. Ich bin aufgewacht und dachte, ich könnte deinen Rock noch fertig nähen, und als ich ins Atrium trat, um das Nähzeug zu holen, und dich nicht
atmen hörte, da …« Sie holt scharf Luft. »Du hättest mich wecken sollen. Ich wäre mit dir gegangen.«
Meine Beschützerin.
Ich weiß, dass es ihre Aufgabe ist, über mich zu wachen, und dass ihre Leidenschaft von jahrhundertealtem religiösem Eifer angefacht wird, den ich erst allmählich zu verstehen lerne. Aber die Art, wie ihre Augen mein Gesicht liebkosen und ihre Hände vor verzweifelter Erleichterung über meine Arme streichen, zeigt mir, dass da noch etwas anderes ist, etwas viel Tieferes.
Meine Kinderfrau.
»Es tut mir leid.« Als ich den zweiten kleinen Kuchen aus der Tasche hole, streifen meine Fingerspitzen den Lederbeutel. Er fühlt sich so riesengroß und sperrig an, dass ich beinahe fürchte, Ximena könnte ihn durch den Stoff hindurch entdecken. »Ich … äh … ich habe dir einen Kuchen mitgebracht.«
Sie nimmt ihn, und ein leises Lächeln zieht über ihre schmalen Lippen. »Danke.« Dann hakt sie sich kameradschaftlich bei mir ein und eskortiert mich in unsere Gemächer.
Ximena ist groß und robust und stark. Als wir nebeneinander hergehen, Arm in Arm, lehne ich mich gegen ihre Schulter und empfinde ihre vertraute Nähe als ungeheuer tröstlich.
Später, als ich sicher bin, dass sie wieder eingeschlafen ist, schleiche ich mich auf den Balkon und vergrabe die toten Feuersteine unter den Wurzeln meiner großen eingetopften Palme.
10
E inige Tage später sitzen Ximena und ich in der Küche – wieder einmal haben wir uns davor gedrückt, im Speisesaal zu essen – und lassen uns zartes Wildbret mit pikanter Johannisbeersauce schmecken. Der Küchenmeister sieht noch zerzauster aus als sonst, und er grüßt mich kaum, so beschäftigt ist er mit den vielen Pollo Pibil, die auf den Punkt gegart werden müssen. Ich kaue zufrieden und sehe ihm dabei zu, wie er die Hühnerbrust mit Knoblauch und Kreuzkümmel einreibt, dann gesäuerten Orangensaft darüberträufelt und sie schließlich in Bananenblätter wickelt.
»Erwarten wir Gäste?«, frage ich, den Mund voll Fleisch.
Er zuckt zusammen. »Das ist die Lieblingsspeise des Königs. Er hat sie ausdrücklich für heute Abend bestellt.«
Hastig schlucke ich das Essen halb gekaut herunter und verziehe das Gesicht, als der Brocken sich schmerzhaft durch meine Kehle zwängt. »Er ist also wieder da?«
Geschäftig trägt der Küchenmeister Fleischpäckchen zu den Kohlepfannen und vergräbt sie in der Glut. »Er ist gestern Nacht zurückgekehrt.«
Das Wildbret liegt mir wie ein Stein im Magen. Alejandro
ist zurück. Und er hat mich nicht einmal benachrichtigt.
Schnell gehe ich mit meiner Kinderfrau in meine Räume zurück, um mich frisch zu machen und meinen neuen Rock anzuziehen. Ximena ist das Kunststück gelungen, ihn so zu schneidern, dass er sich um meine Beine schmiegt, anstatt wie eine nasse Decke an ihnen zu kleben. Außerdem möchte ich mir das Haar kämmen und vielleicht ein wenig Karmesin auf meine Lippen
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