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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rae Carson
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wie eine Maus in einer Falle
fühle, »was Rosario da vorhin sagte … vor allen Leuten: Niemand denkt so von Euch.«
    Ich sehe sie unverwandt an und bin ein wenig enttäuscht von diesem doch eher uneleganten Manöver. Sicher, ich bin fast noch ein Kind, aber trotzdem hätte ich von ihr ein wenig mehr erwartet. Achselzuckend erwidere ich: »Unschuldiger Mund tut Wahrheit kund …«
    Sie streift mich mit ausdruckslosem Blick. »Oh. Das ist sicher ein Zitat. Jeder hier bewundert Euch, weil Ihr so belesen seid. Ich selbst habe überlegt, ob ich die Schriften nicht auch intensiver studieren sollte. Man könnte so viel Weisheit erlangen. Leider fehlt mir dazu die Zeit.«
    Möglicherweise stellen ihre Worte ein Friedensangebot dar, zumindest ein kleines. Aber ihr wohlwollender Gesichtsausdruck ist zu selbstbewusst, ihr Weinglas zu voll. »Ich kann es nur empfehlen, selbst für diejenigen, die sich nicht für die Komplexität eingehender Studien der Schriften eignen.«
    Ich erkenne den Moment, in dem sie die kaum verhohlene Beleidigung hinter meinen Worten versteht. Sie knickst so elegant wie immer. »Nun, genießt den Rest des Abends, Hoheit.«
    Während sie in ihrem Spinnwebenkleid davonschwebt, raunt mir eine tiefe Stimme ins Ohr: »Unterschätzt sie nicht, Prinzessin.« Als ich zusammenzucke und den Kopf hebe, steht Lord Hector neben mir. Sein schön geschnittenes Gesicht ist mir ganz nahe, und wie immer scheinen sich unter seinen ruhigen Zügen tiefe Gedanken zu bewegen. »Sie ist wesentlich mächtiger und intelligenter, als es den Anschein macht.«
    Ich nicke und schlucke den unerwarteten Kloß im Hals herunter, als er sich gleich darauf wieder entfernt.

    Während ich mich weiter dem Paradetanz höflicher Konversation widme, nasche ich unaufhörlich, ohne dabei Alejandros schlanke Gestalt für längere Zeit aus den Augen zu lassen. Er schlendert mit faszinierender Leichtigkeit von einem Gast zum anderen. Nach einer Weile bin ich mehr als satt.
    Das Licht, das durch die schmalen Fenster fällt, verblasst und verschwindet schließlich ganz. Diener hängen Fackeln in regelmäßigen Abständen an die Sandsteinmauern, räumen die Reste des Pollo Pibil von den Buffettischen und bringen stattdessen Platten mit gekühlter Melone und gehäuteten Trauben.
    Mein Blick fällt auf Ximena. Sie lehnt an der Wand, das Gesicht im Schatten. Seit dem großen Auftritt des Prinzen ist sie als stille Begleiterin in meiner Nähe geblieben. Es wäre schön, so unsichtbar sein zu können wie sie, und ich frage mich, was sie heute Abend beobachtet haben mag.
    Ich folge ihrem Blick über die Köpfe der übertrieben gekleideten Adligen zu Alejandro, der Arm in Arm mit Ariña dasteht. Sie unterhalten sich mit General Luz-Manuel. Der König lacht über irgendeine Bemerkung, und dieses Geräusch dringt über den allgemeinen Lärm bis an meine Ohren. Ich bekomme eine Gänsehaut. Ariña stellt sich auf Zehenspitzen und küsst den König auf die Wange. Er neigt sich ihr leicht entgegen.
    Das scharf gewürzte Fleisch liegt mir schwer im Magen, und ich weiß jetzt schon, dass ich mit meinem vollen Bauch nicht gut schlafen werde. Aber trotzdem sind die gekühlten Melonen, golden mit Honig überzogen, viel zu lecker, um ihnen zu widerstehen. Ihre kühle Süße explodiert geradezu auf meiner Zunge. Ich esse noch eine und noch eine.

    Ich weiß nicht, wie lange ich wie angewachsen vor dem Buffet stehe. Schließlich spüre ich Ximenas sanfte Berührung an meinem Oberarm.
    »Komm, gehen wir, mein Himmel.«
    Ich leiste keinen Widerstand, als sie mich mit sich zieht. Schwer atmend stolpere ich hinter ihr her.
     
    Lange will es mir nicht gelingen, ein wenig Ruhe zu finden. Schmerzhafte Stiche fahren durch meinen Unterleib und meine Beine hinab. Von dem vielen Essen habe ich Sodbrennen. Und das Schlimmste ist, dass ich den Gedanken daran nicht abschütteln kann, wie viele Leute mir dabei zugesehen haben mögen, wie offensichtlich ich mich getröstet habe. Ich stelle mir vor, wie Alejandro den Kopf über dieses würdelose Schauspiel schüttelt, während Ariña mit abfällig verzogenem Mund an seinem Arm hängt und Lord Hector sich enttäuscht abwendet.
    Heiße Tränen der Scham rinnen mir die Wangen hinunter und tropfen auf mein Kissen. Ich vermisse Aneaxi mehr denn je. Sie hätte es nicht gekümmert, dass ich nicht zur Königin tauge und dass Alodia sich in mir getäuscht hat. Sie hätte ihre Arme um mich geschlungen und mir gesagt, dass Gott recht daran tat,

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