Der Feuerstein
auch Furcht.
Es war sehr freundlich von ihm, sich zu dieser späten Stunde mit mir zu treffen, um mich trotz der Gefahr für ihn selbst zu unterweisen. Ich ergreife seine Hand. »Meine Kinderfrau wird nichts von diesem Treffen erfahren.«
Er erwidert meinen Händedruck, und uns beiden vermittelt diese Geste Sicherheit und Bestätigung. Trotz der Neuigkeiten dieser Nacht erfüllt mich doch eine gewisse Wärme, denn mir wird bewusst, dass ich hier einen Freund gefunden habe, auf den ich mich verlassen kann.
»Gott wählt stets weise, mein Kind. Ich werde Euch helfen, wo ich kann.«
Mit einem tiefen Atemzug versuche ich, die Angst zum Schweigen zu bringen, die in meiner Brust aufsteigt. »Wenn er so weise wählt, wieso sind dann so viele Träger gescheitert? Wieso hört Gott manchmal nicht auf meine Gebete?«
»Das weiß ich nicht, Elisa. Was den Feuerstein und seine Träger betrifft, gibt es so vieles, was wir nicht verstehen. Aber Gott weiß es. Seine Weisheit ist viel größer, als wir uns vorstellen können.«
Aneaxis Worte, bevor Gott sie sterben ließ. Zwar habe ich mich gut genug im Griff, um nicht vor Vater Nicandro die Augen zu verdrehen, aber es gelingt mir nicht, die Plattitüden auszusprechen, die jetzt eigentlich angemessen wären. Würde er mich immer noch für eine geeignete Trägerin halten, wenn er von den Zweifeln wüsste, die sich immer wieder in meine Gedanken schleichen?
Der Hocker knarrt, als ich mich erhebe. »Ich danke Euch, Vater. Zwar habe ich noch so viele andere Fragen, aber ich bin müde und … nun ja, ich glaube, ich muss über all das noch eine Weile nachdenken.«
Er steht ebenfalls auf und greift nach meinem Unterarm. »Ich habe noch etwas für Euch.«
Während er wieder in der Dunkelheit verschwindet, recke ich mich und gähne. Hoffentlich ist es eine Abschrift von Homers A fflatus. Nur zu gern würde ich diesen Text selbst studieren. Ximena dürfte natürlich nicht erfahren, dass ich ihn besitze, und während ich warte, gehe ich im Geiste schon geeignete Verstecke durch.
Vater Nicandro bleibt lange Zeit verschwunden. Ich höre das Rascheln von Pergament, das Klicken eines Schlosses und ein Knirschen. Als er wieder ins Kerzenlicht tritt, hält er einen faustgroßen Lederbeutel in der Hand, der mit langen Lederbändern zugezogen ist.
Nicht der Afflatus also. Ich versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Was ist das?«
Statt einer Antwort kippt er das kleine Säckchen aus. Drei kleine funkelnde Gegenstände rollen auf den Tisch. Ich trete näher. Es sind geschliffene Steine von der Größe meines Daumennagels, überwiegend matt im Dämmerlicht, aber doch mit einem Hauch von Feuer, wenn der Kerzenschein im richtigen Winkel auf die Oberfläche trifft. Tiefblau. Vertraut. Ich nehme einen Stein in die Hand. Er fühlt sich kalt und hart an.
»Feuersteine«, sagt Vater Nicandro.
Ich halte den Atem an. Sie sehen hier, außerhalb des Körpers, so anders aus, schwer und leblos.
»Dieses Kloster hatte das Privileg, drei Träger zu betreuen.
Als sie starben, lösten sich ihre Feuersteine. Dieser hier«, er deutet auf eines der kleinen Steinchen, »ist zwölfhundert Jahre alt.«
Es ist ein seltsames Gefühl, ein Stück meiner Geschichte in Händen zu halten. Und als der Stein in meinem Nabel im Gegensatz zu diesem kalten Ding in meiner Hand warm zu pulsieren beginnt, wird mir klar, dass es auch meine Zukunft ist. Mein Tod.
Ich lasse den Stein neben die anderen rollen und wische mir die Hand an meinem Morgenrock ab.
Vater Nicandro legt sie zurück in den Lederbeutel und zieht die Schnur zu. »Nur ein Träger kann die Kraft erwecken, die in einem Feuerstein steckt. Ich weiß nicht, ob in diesen hier noch Kräfte verborgen sind, aber vielleicht können sie Euch noch von Nutzen sein.« Auffordernd hält er mir das Säckchen hin.
Noch bringe ich es nicht über mich, sie zu nehmen. »Und falls ich sterbe? Bevor ich irgendeine Aufgabe erfüllt habe?«
»Dann werde ich sie zurückbekommen. Zusammen mit Eurem eigenen Stein.«
Seine Offenheit überzeugt mich. Zwar hat er mich mit seiner Freimütigkeit erschreckt, aber gleichzeitig habe ich gerade deswegen das Gefühl, ihm trauen zu können. Ich stecke das Säckchen in die Tasche meines Morgenmantels.
»Kann ich sonst noch etwas für Euch tun, Hoheit?«
Ausgerechnet in diesem Augenblick knurrt mein Magen, und ich verziehe peinlich berührt das Gesicht.
Er lacht leise. »Wir Priester arbeiten zuweilen zu den
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