Der Feuerthron
Gedanken schlugen wie Peitschenhiebe in die Gehirne der anderen ein, und sie spürte, dass es ihnen bei der Vorstellung grauste. Noch nie in der Geschichte von Runia war ein Mitglied des Volkes durch ein anderes verletzt, geschweige denn getötet worden. Doch bevor irgendjemand Hekerenandil widersprechen oder sie gar tadeln konnte, stimmte Reodhilan ihr zu.
»Wenn Hekendialondilan stirbt, hat Sianderilneh dies zu verantworten und muss wie für einen heimtückischen Mord bestraft werden.«
Die alte Frau war einst die Königin der gelben Runi gewesen und hatte über Talrunia geherrscht, das nun Gurrland hieß. Hier auf Runia, das in jener Zeit Meanrunia genannt worden war, galt sie als die höchste Autorität nach Menanderah, und ihr Wort wog schwer. Das wusste auch die Königin, die ihre Augen nicht mehr vor dem verantwortungslosen Handeln ihrer Cousine verschließen konnte.
»Ich sehe mir jetzt das Haus an!« Die ehemalige Gelbruni trat auf den Wohnbaum zu und befahl ihm, ihr den Eingang zu öffnen. Er weigerte sich.
Erst als Menanderah hinzutrat und ihre Kräfte mit Reodhilan vereinigte, ging ein Zittern durch den Baum. Die Kristallhülle des Hauses platzte an einer Stelle auf, als wäre dort eine riesige Keule eingeschlagen. Die alte Runi stieg hoch und nahm in demselben Moment, in dem sie eintrat, die schwarze Ausstrahlung wahr, die aus dem innersten Raum des Hauses drang.
Eine letzte Tür musste bezwungen werden, bis der Weg endlich frei war. Dann stand Reodhilan in einem unordentlich aussehenden Zimmer. Zauberwerk aller möglichen Farben lag herum, und die Runi spürte erst grüne Magie, dann gelbe und blaue, schließlichviolette und sogar schwarze. Die giftigste Magie drang aus einem kleinen Silberkasten, dessen Deckel verrutscht war. Als sie ihn öffnete, lag ein harmlos wirkendes, nur ganz leicht schwarz strahlendes Sechseck aus Kristall darin, kaum größer als ein Fingernagel.
Reodhilan griff vorsichtig danach, um sich das Ding genauer anzusehen. Sie hatte es jedoch noch nicht berührt, da stach ein schwarzer Strahl aus ihm heraus, schlug in ihren Kopf ein und überschüttete sie mit Bildern und magischen Befehlen. Sie sah eine große Höhle, an deren höchster Stelle sich ein Thron aus schwarzem Kristall befand, der von schwarzen Flammen umspielt wurde. Auf dem Thron saß eine verkrümmte Gestalt, die sich in weite Gewänder gehüllt und das Gesicht hinter einer silbernen Maske verborgen hatte. Die alte Runi begriff, dass sie den Kaiser sah, jenen, den die Königin und Sianderilneh den Verräter nannten, und spürte gleichzeitig, wie er nach ihrem Geist griff, um sie zu unterjochen.
Sie setzte sich heftig zur Wehr, und es gelang ihr, sich abzuwenden. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und fiel hin. Die Spitze eines schwarzen Pfeils, den Sianderilneh achtlos auf einen Haufen anderer Dinge geworfen hatte, drang durch ihre Haut und erzeugte einen heftigen Schmerz. Genau dieser half ihr aber, sich vollends aus dem Griff des Feuerthrons und seines Herrn zu befreien.
Schnaufend kam sie auf die Beine, zog die Pfeilspitze aus ihrem Fleisch und präsentierte sie lächelnd den nachdrängenden Runi.
»Nie zuvor habe ich eine Verletzung durch eine Gegenfarbenwaffe so begrüßt wie jetzt. Der Schmerz hat mir geholfen, wieder zu mir selbst zu finden.« Dann warf sie der Königin den Pfeil zu und sah, wie diese ihn auffing und dann mit einem spitzen Schrei fallen ließ. Gleichzeitig schirmte sie ihre Augen mit der linken Hand ab und schob mit der anderen den Deckel auf das Silbergefäß, so dass es richtig schloss.
»Ich weiß nicht, ob ihr es selbst erleben wollt oder ob euch meine Erfahrung genügt«, sagte sie zu den fassungslos in ihre Richtungstarrenden Runi. »Doch wenn ihr es tut, solltet ihr euch in Acht nehmen.«
Die Königin schwankte, ob sie selbst nachsehen sollte, was in dem Kästchen lag, und ließ ihren Blick unentschlossen zwischen dem Ding und Reodhilan hin- und herwandern. Das Schwarz, das die Luft schwängerte wie eine üble Ausdünstung, ließ sie schaudern. »Was befindet sich in der Schatulle?«
»Wenn mich nicht alles täuscht, ein Teil des Feuerthrons. Ich glaube nicht, dass der, dessen Namen ihr vergessen wollt, ihn absichtlich hiergelassen hat. Als er nach Gurrland abgereist ist, um zu erkunden, weshalb die alten, gegen uns gerichteten Zauber noch wirken, hat er alle inzwischen aufgetauchten Bruchstücke mitgenommen. Wahrscheinlich hat Sianderilneh dieses Ding irgendwann einmal
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