Der Findling
Sib, umarmte ihn und schüttelte ihn mit nervöser Gewalt, dann wieder reizte sie seine Gegenwart und sie schob ihn weg, während dieser nichts von allem begriff.
Am Abende der ersten Aufführung strömten die Leute in hellen Haufen nach dem Theater in Limerick. Der Theaterzettel hatte eine ganz außergewöhnliche Zugkraft geübt.
Gastvorstellung
der Miß Anna Walston ,
Die Reue einer Mutter.
Schauspiel von dem
berühmten Furpil.
Personen:
Die Herzogin von Kendalle ………. Miß Anna Walston.
Sib, dargestellt von deren Pflegesohne, der »Findling« genannt, z. Z. 5 Jahre 9 Monate alt … u. s. w.
Wie stolz wäre der kleine Bursche gewesen, wenn er vor diesem Anschlage gestanden hätte. Er konnte ja lesen, und hier stand sein Name schwarz auf weiß in großen Buchstaben.
Dieser Stolz wäre freilich bald gedemüthigt worden. In der Garderobe der Miß Anna Walston erwartete ihn ein wirklicher Kummer.
Bis zum heutigen Abend hatte er keine »Costümprobe« gehabt, weil man das für unnöthig erachtete. Er war also stets mit seinen besten Kleidern nach dem Theater gegangen. Jetzt brachte aber Elisa, während sich Miß Anna als Herzogin von Kendalle schmückte. für ihn eine ganz zerfetzte Tracht herbei, die sie ihm anzulegen begann, scheinbar schmutzige, zerrissene Lumpen, die freilich auf der Innenseite völlig sauber waren. In dem rührseligen Stücke ist Sib in der That ein verlassenes Kind, das seine Mutter in den dürftigsten Verhältnissen wiederfindet, seine Mutter eine Herzogin, eine Schönheit in Sammet, Seide und duftigen Spitzen.
Während ihn der Regisseur an der Hand hielt. (S. 85.)
Als er den Anzug sah, glaubte der kleine Knabe zuerst, er solle nach der Lumpenschule zurückgeschickt werden..
»Miß Anna… Miß Anna! rief er schluchzend.
– Was willst Du? fragte die Künstlerin.
– Schicken Sie mich nicht wieder zurück, bitte, bitte!
– Dich zurückschicken?… Warum denn?
– Hier die alten, schlechten Kleider…
– Nein… was er sich gleich einbildet!
– Ach was, halte still, kleiner Querkopf! fiel Elisa ein, die ihn mit fester Hand anfaßte.
– Ach, die Engelsliebe!« sagte Miß Anna tiefgerührt.
Und mit seiner Pinselspitze malte sie sich leicht geschwungne Augenbrauen.
»Das süße Herz… wenn das jemand von den Zuschauern wüßte!«
Sie legte etwas Roth auf die Wangen.
»Die Leute sollen’s aber erfahren, Elisa. Morgen schon steht es in den Blättern, daß er hat glauben können…«
Sie warf sich eine kostbare weiße Hülle um die Schultern.
»O über den seltsamen Babish!… Jene schlechten Kleider… ach, es ist zum Lachen…
– Zum Lachen, Miß Anna?…
– Ja, weinen darf man ja nicht.«
Sie hätte wohl Thränen vergossen, fürchtete aber ihre künstliche Färbung zu beschädigen.
Elisa bemerkte jedoch kopfschüttelnd:
»Sie sehen, Miß Anna, daß wir aus dem nie einen Komödianten machen werden!«
Der Findling ließ sich indeß, eingeschüchtert und recht schweren Herzens, die Lumpen für die Rolle Sibs anlegen.
Da kam Miß Anna Walston auf den Gedanken, ihm eine glänzende Guinee zu schenken, das sollte ihn beim ersten Auftreten ermuntern. Schnell getröstet, nahm der Kleine das Goldstück hastig an und steckte es, nach gehöriger Besichtigung, tief in seine Tasche.
Nachher streichelte ihm die Künstlerin noch einmal die Wangen und begab sich nach der Bühne hinunter, indem sie Elisa beauftragte, ihn in der Garderobe zu behalten, da er erst im dritten Acte aufzutreten hatte.
Heute Abend füllten die seine Welt und die bessern Kreise überhaupt das Theater vom Orchester bis zum Schnürboden, obgleich dieses Stück keine Novität war. Schon seit zwölf bis dreizehn Jahren hatten es alle Bühnen des Vereinigten Königreichs aufgeführt, was effectreichen Stücken selbst untergeordneten Werthes ja nicht selten widerfuhr.
Der erste Act verlief nach Vorschrift. Miß Anna Walston erntete rauschenden Beifall, den sie durch die Leidenschaft ihres Spiels und den Glanz ihres Talents von den hingerissenen Zuschauern gewiß verdiente.
Nach dem ersten Acte begab sich die Herzogin von Kendalle nach ihrer Garderobe zurück und legte hier, zum größten Erstaunen Sibs, ihre Seiden-und Sammetkleidung ab, um diese mit der Tracht einer einfachen Magd zu vertauschen – wie es die, übrigens recht altersgraue Entwickelung des Dramas verlangte.
Der Findling starrte die Dame in Sammet an, die zu einer Frau in grober Wolle
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