Der Findling
Findling genau beim Stichworte hinein.
Der kleine Knabe hatte sein Debüt in der theatralischen Laufbahn. O, wie klopfte ihm das Herz!
Vom Zuschauerraume her tönte ein Gemurmel, ein Ausdruck theilnehmenden Mitleids, während Sib, mit gesenkten Augen und ungewissen Schritten herankommend, gegen die trauernde Dame die Hand ausstreckte. Die Zuschauer glaubten herauszufinden, daß er solche Lumpen gewöhnt gewesen war.
Man bereitete ihm einen »Empfang«, was den Kleinen noch mehr verwirrte.
Plötzlich erhebt sich die Herzogin, sie starrt ihn an, sinkt zurück und öffnet die Arme.
Ein markdurchdringender Schrei nach allen Regeln der Kunst.
»Er ist’s!… Er ist’s!… Ich erkenne ihn wieder!… Das ist Sib, mein… mein Kind!«
Darauf zieht sie ihn an sich, drückt ihn ans Herz, bedeckt ihn mit Küssen… er läßt sie gewähren. Sie weint – diesmal leibhaftige Thränen – und schluchzt:
»Mein Kind… mein Kind ist es, dieser kleine Unglückliche, der mich um ein Almosen anfleht!«
Das ergreift den armen Sib.
»Ihr Kind, Miß Anna? fragte er trotz der Mahnung, kein Wort zu sprechen.
– Schweig doch!« zischelt ihm die Künstlerin heimlich zu.
Dann fährt sie fort:
»Um mich zu strafen, hatte der Himmel mir ihn genommen, heute giebt er ihn mir wieder!«
Unter diesen von Seufzern unterbrochenen Worten verzehrt sie Sib fast mit ihren Küssen, überschüttet sie ihn fast mit ihren Thränen. Niemals, nein, niemals war der kleine Knabe so stürmisch geherzt und gepreßt worden, nie hatte er sich so mütterlich geliebt gefühlt.
Die Herzogin erhebt sich, als höre sie Geräusch von draußen.
»Sib, ruft sie, Du wirst nicht von mir gehen!
– Gewiß nicht, Miß Anna!
– So schweig doch nur!« ruft sie auf die Gefahr hin, von den Zuschauern gehört zu werden.
Die Thür der Hütte wird hastig aufgestoßen. Zwei Männer erscheinen auf der Schwelle.
Der erste ist der Gemahl der Trauernden, der andre ein Gerichtsdiener der jenen zur Unterstützung begleitet.
»Ergreifen Sie dieses Kind… es gehört mir!
– Nein, das ist Dein Sohn nicht! antwortet die Herzogin, die Sib ein Stück hinwegzieht.
– Sie sind nicht mein Papa!« erklärt der kleine Junge laut
Die Fingerspitzen der Miß Anna Walston haben sich so tief in seinen Arm eingebohrt, daß ihm ein Schrei entfährt. Dieser Schrei paßt ja zur Situation und compromittiert sie nicht. Jetzt ist es eine Mutter, die ihn an sich preßt… keiner soll ihr das Kind entreißen können. Eine Löwin vertheidigt ihr Junges….
Der kleine sich sträubende Löwe, der den Vorgang für Ernst nimmt, wird zu widerstehen wissen. Der Herzog hat sich seiner bemächtigt; er entschlüpft ihm und eilt auf die Herzogin zu.
»Ach, Miß Anna, ruft er weinend, warum haben Sie mir gesagt, daß Sie nicht meine Mama sind?
– Wirst Du schweigen, Unglücksvogel!… Wirst Du endlich schweigen! murmelt sie, während Herzog und Gerichtsdiener bei diesen unerwarteten Zwischenreden ganz aus der Rolle fallen.
– Ja, ja… antwortet Sib, Sie sind doch meine Mama… ich hatte es Ihnen ja gesagt, Miß Anna… meine richtige Mama.«
Die Zuschauer begreifen allmählich, daß das nicht zum Stüche gehört; sie kichern und lächeln, einige klatschen scherzweise Beifall. Eigentlich hätten sie weinen sollen, denn es war rührend zu sehen, wie das Kind in der Herzogin von Kendalle seine leibliche Mutter zu erkennen wähnte.
Die »Situation« blieb aber – so oder so – compromittiert. Man fing an zu lachen, wo hätte man weinen sollen, und um den großen Auftritt war es geschehen.
Miß Anna Walston erfaßte die ganze Lächerlichkeit der Lage. Ihre vortrefflichen Collegen raunten ihr ironische Bemerkungen zu.
Außer sich vor Erregung ergriff sie eine blinde Wuth. Den kleinen Dummkopf, der die Ursache all dieses Unheils war, hätte sie vernichten mögen!… Da schwanden ihr die Kräfte. sie fiel auf die Bühne nieder und der Vorhang senkte sich unter homerischem Gelächter der Zuschauer.
Noch in derselben Nacht verließ Miß Anna Walston, die man nach dem Royal-George-Hôtel geschafft hatte, die Stadt in Begleitung der Elisa Corbett. Sie verzichtete auf die für die folgende Woche angekündigten Vorstellungen und entrichtete deshalb die übliche Conventionalstrafe. Auf dem Theater in Limerick wollte sie nie wieder auftreten.
Um den kleinen Knaben hatte sie sich gar nicht weiter gekümmert. Sie entledigte sich seiner wie eines Dinges, das ihr nicht mehr gefiel und dessen Anblick ihr
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