Der Findling
quälende Angst der Familie Mac Carthy! Sobald von der Straße Schritte ertönten, wurden Martine und Kitty todtenbleich. Die Großmutter richtete langsam den Kopf auf und ließ ihn kraftlos wieder niedersinken. Immer fürchteten die Frauen, es könnten Polizisten eindringen, um Murdock und vielleicht auch dessen Vater und Bruder in Hast zu nehmen.
Wiederholt hatte Martine ihren ältesten Sohn angefleht, sich den den hervortretenden Mitgliedern der Landliga drohenden Maßregeln nicht auszusetzen. Erst waren in den Städten Verhaftungen vorgenommen worden, und auf dem Lande mußten solche bald folgen. Murdock hätte sich dann kaum verbergen können.
An die Aufsuchung einer Zufluchtsstätte in den Felsenhöhlen der Küste oder im Dickicht des Waldes war im Winter gar nicht zu denken. Murdock wollte sich von Frau und Kind auch nicht trennen, und wenn er auch in den weniger überwachten Grafschaften des Nordens hätte etwas mehr Sicherheit finden können, so fehlte es ihm doch an Mitteln, Kitty dahin mitzunehmen und für deren Unterhalt zu sorgen. Die Casse der Nationalisten war, trotz ihres Bestandes von zwei Millionen Pfund, nicht in der Lage, die Erhebung gegen den Landlordismus siegreich durchzuführen.
Murdock blieb also in der Farm, doch stets bereit zur Flucht, wenn die Constabler hier etwa zu einer Haussuchung einträfen. Findling und Birk blieben in der Umgebung auf der Wacht. Niemand hätte sich bis auf eine halbe Meile nähern können, ohne bemerkt und gemeldet zu werden.
Weit mehr beunruhigte Murdock übrigens das nächste Erscheinen des Pachtcassierers, der die zu Weihnachten fällige Bodenrente einzuholen käme.
Bisher war Martin Mac Carthy immer im Stande gewesen, seinen Verpflichtungen aus dem laufenden Ertrage der Farm und im Nothfall aus früheren Ueberschüssen nachzukommen. Nur ein-oder zweimal hatte er, wenn auch mit Mühe, eine kurze Gestundung erbeten und erlangt, um die volle Summe herbeizuschaffen. Heute wußte er leider nicht, woher das Geld kommen oder was er verkaufen sollte, da ja nichts mehr vorhanden war, weder von den Hausthieren, die er zum Theil verloren hatte, noch von seinen Ersparnissen, die schon von den Staatsabgaben aufgezehrt waren.
Der Eigenthümer der Domäne von Rockingham war – wie schon erwähnt – ein englischer Lord und noch niemals nach Irland gekommen. Beseelten ihn auch die besten Absichten bezüglich seiner Pächter, so kannte er diese doch nicht und konnte ebenso wenig für sie im Einzelfalle eintreten, wie diese sich an ihn selbst wenden. Der Middleman, der die Ausbeute der großen Besitzung auf eigne Rechnung übernommen hatte, wohnte in Dublin. Auch er kam mit den Pächtern nur selten in Berührung und überließ es einem Unterbeamten, die Grundrenten zur gewohnten Zeit einzuziehen.
Dieser Mann, der sich jährlich beim Pächter Mac Carthy einfand, hieß Harbert. Rauh und hart, zu sehr gewöhnt an den Anblick des Elends, um davon noch ergriffen zu werden, war er mehr ein Art Gerichtsbote, ein Häscher, den kein Bitten und Flehen zu erweichen vermochte. Bei seinen Besuchen in den Farmen der Grafschaft hatte er schon genügend bewiesen, wessen er fähig war – hatte ohne Gnade so manche unglückliche Familie in die Winterkälte hinausgetrieben, selbst ohne Gewährung einer Frist zur Beschaffung eines andern Unterkommens. Mit bestimmten Vorschriften hinausgeschickt, schien es, als ob der Mann sich ein Vergnügen daraus machte, diese in aller Härte auszuführen. Die Grüne Insel ist ja das Land, aus dem der traurige Ausspruch herstammt: »Man verletzt das Gesetz nicht, wenn man einen Irländer tödtet!«
In Kerwan herrschte jetzt die schlimmste Unruhe. Der Besuch Harbert’s konnte nicht mehr lange ausbleiben. Die letzte Decemberwoche benützte er gewöhnlich, die Domäne von Rockingham zu bereisen.
Am Morgen des 29. December kam Findling, der jenen zuerst bemerkt hatte, athemlos nach dem Hause gelaufen, um die Familie in der großen Stube von dem Eintreffen des gefürchteten Mannes zu benachrichtigen.
Alle – der Vater, die Mutter, die Söhne, die Urgroßmutter und ihre Urenkelin, die Kitty auf den Knien hielt – waren hier beisammen.
Der Beamte stieß das Gitterthor auf, schritt sicher und fest – mit dem Tritte des Herrn – durch den Hof, öffnete die Thür des Zimmers und setzte sich, sogar ohne den Hut abzunehmen, ohne einen Guten Tag, wie einer, der sich hier weit mehr zu Hause fühlte als die Insassen der Wohnung, auf einen Stuhl vor dem
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