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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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ihre Sorgen. Sie müssen wissen, Maria Olsen war, als ich sie kennenlernte, eine aufgeschlossene und lebenslustige Frau, und mit einem Schlag wurde aus ihr eine in sich gekehrte und zurückgezogen lebende Person. Aber das hat ihrer Beliebtheit keinen Abbruch getan. Der einzige, der es einigermaßen verstanden hat, sie aus ihrer selbstgewählten Isolation herauszureißen, war unser Doktor. Doch Sie wissen ja selbst …«
    Sie bewegten sich auf den Ausgang zu, die Schritte vomroten Filzteppich gedämpft, der den gesamten Mittelgang vom Altar bis zur Tür verlief.
    Brackmann faßte sich ans Kinn und blieb abrupt stehen. »Seltsam, aber Sie sagten, Frau Olsen sei am vergangenen Sonntag bei Ihnen gewesen. Mich rief vorhin Richter über Funk zu ihr, weil sie mir etwas im Vertrauen mitteilen wollte. Leider kam ich einen Tick zu spät. Ich meine, es muß etwas Wichtiges gewesen sein, denn eigentlich kannten wir uns nicht gut genug, als daß sie einfach nur so zum Spaß nach mir verlangt hätte. Und außerdem nannte sie kurz vor ihrem Ableben noch Ihren Namen und erwähnte einen Brief. Können Sie sich darauf einen Reim machen?«
    Engler schaute von der Tür aus über das im matten Sonnenlicht liegende Waldstein, schwieg einen Moment, seine Kiefer mahlten aufeinander, dann richtete er seinen Blick auf Brackmann und sagte mit ernster, gedämpfter Stimme: »Würden Sie bitte mitkommen? Vielleicht kann ich Ihre Frage beantworten. Es tut mir leid, wenn ich nicht sofort daran gedacht habe, aber …« Er machte eine entschuldigende Geste. Sie liefen durch einen schmalen Seitengang, betraten Englers Büro. Er ging um den mit Büchern, Papieren und einer Schreibmaschine, in der ein halbbeschriebenes Blatt steckte, vollgepackten Schreibtisch herum. Gemütliche Unordnung. Er zog eine Schublade heraus, holte einen großen braunen Umschlag hervor. Darauf stand
Nach meinem Ableben zu öffnen.
Der Umschlag enthielt drei kleinere weiße Umschläge, die jeweils mit Namen versehen waren. Einer war für Engler bestimmt, einer für Reuter und einer für Brackmann. Engler reichte Brackmann mit undurchdringlicher Miene den für ihn bestimmten Umschlag.
    »Hier, vielleicht finden Sie darin, was Sie suchen.«
    »Möglich.« Brackmann öffnete den Umschlag, nahm den Brief heraus. Maria Olsens Schrift war apart, kunstvollgeschwungen, jugendlich. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich gleich hier lese?«
    »Nein, nein, machen Sie es sich nur bequem. Möchten Sie etwas trinken? Einen Sherry vielleicht?«
    Brackmann lehnte dankend ab, setzte sich in einen der drei weichen braunen Ledersessel, die im Raum verteilt standen. Der Brief trug das Datum des vergangenen Samstags. Er begann zu lesen.
     
    Werter Herr Brackmann,
    sicherlich werden Sie sich wundern, von mir einen Brief zu erhalten. Doch dafür gibt es einen guten Grund.
    Sie haben auf mich von Anfang an den Eindruck eines rechtschaffenen Mannes gemacht; für mich ist das im übrigen Grundvoraussetzung für einen Polizisten, auch wenn er es, wie es scheint, in Waldstein nicht sonderlich schwer hat.
    Ich liebe Waldstein, ich bin hier geboren, habe hier geheiratet und werde mit Sicherheit auch hier begraben werden.
    Doch nun zum eigentlichen Grund dieses Briefes. Es handelt sich um eine Angelegenheit, von der, so glaube ich zumindest, nur wenige Menschen außer mir wissen. Sie hat sich im Frühjahr vor sechs Jahren zugetragen – vom Datum ausgehend, an dem ich diesen Brief jetzt abfasse –, also etwa ein halbes Jahr, bevor Sie herkamen. Damals ist ein junger Mann namens Alexander Höllerich nach Waldstein gekommen. Dieser Alexander Höllerich ist aber leider auch hier gestorben – keines natürlichen Todes jedoch, wie ich bedauerlicherweise hinzufügen muß. Er wurde getötet oder ermordet, ich bin mir nicht ganz sicher, welche Bezeichnung ich wählen soll, aber ich schätze, eher letzteres trifft zu. Ich weiß nicht, was mit seinem Leichnam geschehen ist, aber er wurdeentweder aus der Stadt gebracht oder im Steinbruch vergraben (was ich aber nicht mit Bestimmtheit zu sagen vermag). Ich gehöre jedoch zu den sehr wenigen, die von seinem Tod Kenntnis haben.
    Herr Brackmann, ich habe all die Jahre über geschwiegen, und glauben Sie mir bitte, ich schäme mich zutiefst dafür. Ich schäme mich für mein Schweigen, besonders aber für meine Feigheit. Ich habe oft mit mir gerungen, mit Ihnen oder einer anderen Person meines Vertrauens wie Pfarrer Engler darüber zu sprechen, doch ich konnte es nicht. Ich

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