Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
Mittelmeerraum ausfiel. Die griechischen Verluste waren nicht leicht zu verkraften, Ende Juli 2011 leckt er sich noch die Wunden. Im August bricht die Panik aus: Ausverkauf von den Staatsanleihen bis zu den Aktien großer Unternehmen. Die nächste Offensive wird im Herbst gestartet. Doch die Zivilgesellschaft sorgt dafür, dass den Kartenhäusern, auf denen die Macht der Oligarchen beruht, ein heftiger Wind entgegenbläst. Und so ist Vorsicht angesagt.
Kein Wunder also, dass sogar die alten Schlachtrosse der Politik wie der Nationalismus oder Rassismus mittlerweile lahmen. Nachdem die Lega Nord in ihrer Wahlkampagne ausschließlich die Ängste der Bürger schürte, musste sie bei den Kommunalwahlen 2011 empfindliche Verluste hinnehmen. In der Poebene mehrere Prozentpunkte, etwa 10 Prozent im Veneto. Sogar Mailand, die Festung der Rechten, wurde nach achtzehn Jahren vom Mitte-links-Kandidaten Giuliano Pisapia erobert, der seit 2011 dort Bürgermeister ist. Ein Wahlergebnis, das sicher Zeichen des Protests gegen die mangelhaften Leistungen der vormaligen Stadtverwaltung war und das durch abgewanderte Stimmen der Rechten wie der Linken gleichermaßen möglich wurde. Ein parteiübergreifendes Ergebnis also, denn die neue Bewegung, die sich rund ums Mittelmeer formiert, ist eben genau das: grenzübergreifend. Wie es auch die jungen Menschen sind.
Der Strom von »illegalen« Einwanderern, der sich seit Jahren an die Küsten der europäischen Mittelmeerstaaten ergießt und mittlerweile zum Tsunami wurde, ist kein feindliches Heer, wie unsere Regierenden uns glauben machen wollen. Er ist Teil jener Zivilgesellschaft, zu der auch wir gehören. Wie unsere Familien sind auch die Migranten Opfer eines politischen und wirtschaftlichen Systems, das ebenso ungerecht wie starr ist. Diese Menschen versuchen, brutalen Regimen zu entkommen, darniederliegenden Wirtschaftssystemen, die nicht zuletzt Frucht der Klimakatastrophen sind, die wir durch übermäßigen Ressourcenverbrauch ausgelöst haben. Sie träumen vom Europa der Fernsehschirme, einer Reality-Show, einer Welt, in der angeblich Demokratie herrscht. Keiner denkt, dass ihn, nachdem er endlich unter Lebensgefahr die europäische Festung gestürmt hat, ein Leidensweg ähnlich dem in seiner Heimat erwartet. Und doch ist es so. Die europäischen Demokratien können diese Menschen nicht mehr aufnehmen. Sie verjagen sie oder beuten sie aus. Und der Grund? Nun, sie können ja nicht einmal mehr das Wohlergehen ihrer eigenen Bürger sichern.
Denn auch die jungen Europäer suchen den Weg über die Grenze. Sie fliehen vor ungesicherten Arbeitsverhältnissen und ewiger Abhängigkeit von der Familie, vor einer Kastengesellschaft, in der es keinen Fortschritt mehr gibt, vor der Korruption und dem Zynismus derer, die über ihr Schicksal bestimmen. Der berühmte brain drain treibt Universitätsabsolventen ins Ausland, Menschen mit und ohne Berufsausbildung wandern ab: aus Italien in den letzten zwanzig Jahren insgesamt neun Millionen. Von den Griechen, Spaniern, Portugiesen einmal ganz abgesehen, die sich eine einigermaßen menschenwürdige Existenz aufbauen wollen, was in ihren Heimatländern nicht mehr möglich ist. Die junge Generation in den Mittelmeerländern teilt ein Schicksal: ausgeschlossen und ohne Hoffnung zu sein.
Da die Produktionssysteme im Westen sie nicht mehr aufnehmen können wie die Generation ihrer Eltern und ihnen keinerlei Garantien mehr bieten, treten die jungen Leute auf dem Markt entweder als Konsumenten auf oder als »Arbeitskräfte zur freien Ausbeutung« in ungesicherten Arbeitsverhältnissen. Düstere Zukunftsaussichten, die aus der Familie eine Art sozialen Stoßdämpfer machen, um das Schicksal derer abzufedern, denen der Staat keinerlei Schutz und Sicherheit mehr bietet. Von der Miete bis zur Autowerkstatt, vom Kindergarten bis zum Zahnarzt – die Familie kommt für alles auf, weil die Kinder buchstäblich Hungerlöhne erhalten. Was aber tun unsere Kinder, wenn unsere Ersparnisse aufgebraucht sind, wenn wir, die Elterngeneration Europas, nicht mehr da sind und unser Einkommen, unsere Rente wegfällt? Wodurch werden unsere Kinder sich dann noch von den afrikanischen Einwanderern unterscheiden?
Durch die Sprache jedenfalls nicht. Sie sprechen alle die Sprache des Web 2.0, der neuen Kommunikationsmittel, die den Politikern so unverständlich ist. Sie teilen denselben sozialen Raum, denn sie sind alle im globalen Dorf der virtuellen Welt groß geworden.
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