Der fliegende Brasilianer - Roman
verbraucht, und der Ballon lässt sich nicht mehr lenken. Machuron sieht den jungen Mann bewundernd an und übernimmt die Gasventile.
Der Ballon überfliegt ein dichtes Gehölz und bewegt sich weiter in Richtung einer Lichtung, auf der sich ein Bach durch die Grasfläche schlängelt. Machuron öffnet die Ventile, und der Ballon sinkt sanft neben dem Bach zur Erde. Monsieur, mit einem Fotoapparat bewaffnet, wartet kaum ab, bis der Korb den Boden berührt. Er springt auf das Gras, hebt die Kamera vors Auge und macht Aufnahmen von dem erschlaffenden Ballon. Nach der Fotoserie setzt Monsieur die Kamera ab und sieht sich um. Der Wind wiegt die Weizenfelder, und die Grillen grüßen die letzten schwülen Tage. Hinter einer Pappelreihe tauchen die Schieferschindeln eines Schlosses im Stil des 18. Jahrhunderts auf.
Der Nachmittag geht im säuselnden Wind zur Neige.
Der Park Das Schloss aus dem 18. Jahrhundert heißt Château de la Ferrière und ist im Besitz des Baron Alphonse de Rothschild. Der Baron, ein einflussreicher und angesehener Mann, ist für Alberto kein gänzlich Unbekannter. Mit seiner Landung in den Parkanlagen des Barons pflegt er gewissermaßen nur einen alten brasilianischen Brauch. Viele, viele Jahre lang wird die Familie Rothschild brasilianischen Politikern – mit der Untertasse in der Hand um Darlehen nachsuchend – als Landeplatz dienen.
Ich war ein sommersprossiges Mädchen von erst 13 Jahren, erinnert sich Jahre später die Baronin Christiane de Rothschild, Tochter des Baron Alphonse, als dieser brasilianische Herr damit begann, von Zeit zu Zeit mit den bizarresten Flugapparaten in unserem Park herunterzukommen. Aber ich habe ihn nicht persönlich gekannt, und ich glaube auch nicht, dass ich ihm je auf einer Gesellschaft begegnet bin. Zu jener Zeit verbrachte ich den größten Teil des Jahres in einem Internat in Genf, aber ich weiß, dass La Ferrière anscheinend zum Lieblingslandeplatz der Ballonfahrer wurde. Ich erinnere mich, dass mein Vater sogar zwei Männer extra dafür abgestellt hatte, dass sie den Verunglückten zu Hilfe eilten. Einer dieser Angestellten ist noch immer bei uns, Gaston, der Gärtner …
Christiane de Rothschild starb 1976 bei einem Flugzeugabsturz.
Der Gärtner Gaston starb mit 95 Jahren, von einer Lungenentzündung dahingerafft. Er erzählte, dass um das Jahr 1898 an manchen Tagen so viele herunterkamen, als ob es in La Ferrière Ballonfahrer regnete. Natürlich verletzten manche sich. In diesen Dingern zu fliegen, das konnte doch kein Mensch bei gesundem Verstand wollen. Fliegen war im Jahre 1898 nicht so wie heute, mit diesen vielen Flugzeugen, bei denen man überhöhte Preise zahlt und wenig Komfort geboten bekommt …
Im Schatten der Familie In der Wohnung im 16. Arrondissement erfährt man es erst am nächsten Tag. Die Cousins seufzen ungehalten, und Madame Dumont gerät in Panik. Sie weiß, wie man die normalen Triebe eines Jünglings zügelt. Für jede unreife Entgleisung hat sie ein Heilmittel. Aber der brasilianische Neffe ist eine Ausnahme. Er verbringt nicht die Nächte am Spieltisch, gefährdet nicht seine Gesundheit mit irgendeinem Rauschmittel, das gerade in Mode ist, und er lebt erst recht nicht sein jugendliches Ungestüm in den Armen der käuflichen Frauen aus, die es auf den Straßen der Lichterstadt zuhauf gibt.
Der verflixte brasilianische Neffe fliegt nur.
Gewisse Dinge, die ein Herr nicht tun darf Alberto geht nun in der Werkstatt von Lachambre und Machuron ein und aus. Er wird in den übelsten Cafés von Montparnasse gesehen, wo er sich mit anderen Ballonfahrern unterhält, Leuten, die in der Stadt als verantwortungslose Verrückte gelten.
Zu Madame Dumonts Missfallen ist der Neffe so tief gesunken, dass er sich sogar auf Märkten und Volksfesten zeigt. Madame meint, diese Abenteurer hätten es auf das Geld ihres Neffen abgesehen.
Gewisse Dinge, die ein Ballonfahrer tun muss Üben, und das tut Alberto. Bei jedem Aufstieg von Lachambre und Machuron ist er dabei und hilft. Und er lernt schnell. Schon bald vertrauen die Meister auf ihren gelehrigen Schüler.
Dann kommt der Tag seines ersten Alleinflugs. In Peronne, einem Städtchen im Norden, gibt es von der eingefahrenen Alltagsroutine nur einmal im Jahr Abwechslung durch den drei Tage währenden Bauernmarkt. Aus der ganzen Umgebung strömen Menschen in die Stadt, trinken Wein, tanzen und treiben Handel.
In jenem Jahr will der Ort beweisen, dass sein Markt mit der Zeit
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