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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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Umrisse. Jener Mann … jenes Wesen glich einem Mönch. Er trug eine lange Kutte mit einer spitzen Kapuze auf dem Kopf, in deren Schatten sein Gesicht einem schwarzen Loch glich. Er war sehr groß und schien noch größer zu werden, als er die Hände hob und sie uns einladend entgegenstreckte.
    »Willkommen, Caspar von Kranichstein, willkommen.«
    Seine Stimme klang fremd, doch als er näher trat, schlug er die Kapuze zurück, und ich konnte sein Gesicht sehen. Mir stockte der Atem. Das Gesicht passte nicht recht zu seinem Körper: Sehnig, straff, gespannt wirkte dieser, während das Gesicht so faltig war, das Haar so schütter. Es war, als hätte er eine Verjüngungskur hinter sich, die nur zum Teil ihre Wirkung gezeigt hatte und die aus einem Ganzen etwas Zusammengestückeltes gemacht hatte.
    Doch nicht das war es, was mich aufschreien ließ. Ich schrie, weil ich diesen Mann … diesen Nephil kannte. Auch wenn es absurd schien, ihn aufrecht stehen, gehen, ja, reden zu hören, wusste ich sofort, wer es war: Es war Samuel Orqual.
     
    Zunächst war Samuel Orquals Blick nur auf Caspar gerichtet, dann fiel er auf mich. Seine Augen waren so blau wie die der Wächter, jedoch so starr und bösartig wie die der Schlangensöhne.
    »Sophie …«, setzte er gedehnt an. Er nutzte ganz selbstverständlich meinen Vornamen.
    Während Nathan den Atem anhielt und Caspar instinktiv zurückwich, versteifte ich mich.
    »Eine Lüge!«, stieß ich heiser aus. Im Schock konnte ich zunächst nicht mehr sagen, als immer wieder dieses Wort. Dann presste ich mühsam hervor: »Es war alles eine Lüge!«
    Er lächelte, doch wegen der schmalen, farblosen Lippen wirkte es schal. »Warum ein so hässliches Wort?«, gab er zurück. »Nennen wir es einfach Tarnung. Oder meinetwegen auch Täuschung …«
    Ich konnte nichts mehr sagen. Blitzartig hatte ich Bilder vor Augen – und diese bekamen plötzlich eine ganz neue Bedeutung: Samuel Orqual, wie er entsetzt in Richtung des schwarzen Mannes auf dem kranichsteinschen Anwesen gestarrt hatte, obwohl er diesen Mann in Wahrheit wohl selbst beauftragt hatte, dort zu sein. Marian, der mich unbedingt warnen wollte – vor seinem eigenen Großvater. Ein Mann, der sich über ihn beugte, nachdem er vermeintlich einen Schwächeanfall erlitten hatte – und wahrscheinlich ein Nephil und Diener war, der in Caspars Anwesen das Buch hinterlassen hatte und der in der Gestalt eines Arztes mein Misstrauen nicht erweckte. Der umgekippte Rollstuhl schließlich, die Zeichen eines heftigen Kampfes, die Bücher, die man aus den Regalen gerissen hatte – all das diente wohl nur dazu, mich und Caspar auf die falsche Fährte zu locken. Und Susanna, die von Anfang an gewusst hatte, wer ihr Mann in Wahrheit war, war von ihm brutal in den Keller gestoßen und dort schwer verletzt liegen gelassen worden, weil sie am Ende kein gemeinsames Spiel mehr mit ihm machen wollte, sich vielmehr gegen ihn stellte und mir das Blatt mit dem Protokoll bringen wollte, dem Protokoll, in dem vielleicht nicht nur Sartaels Namen stand, sondern auch seiner …
    »Ich bemerke eben mit Entsetzen, dass ich mich nie richtig bei dir vorgestellt habe«, setzte der Mann, den ich bis jetzt für einen schwerkranken alten Menschen gehalten hatte, an. »Gestatten: Ich bin Saraqujal.«
    Er nickte mir zu und trat noch einen Schritt näher.
    Samuel Orqual. Saraqujal.
    Wenn wir nicht nur Sartaels, sondern auch diesen Namen auf dem Protokoll entziffert hätten, wäre mir vielleicht früher aufgegangen, was hier vor sich ging, dann hätte ich vielleicht auch Susannas letzte Worte richtig verstanden. Und sie nicht völlig falsch interpretiert.
    Sie haben ihn geholt … in seinem Zustand verkraftet er das nicht.
    Ich hatte geglaubt, dass von Samuel Orqual die Rede war, dem kranken, gelähmten, alten Mann, doch in Wahrheit hatte sie den schreckhaften, sensiblen Marian gemeint. Wahrscheinlich hatte sein Großvater ihn erst gewaltsam mitgeschleppt, um ihn später zurück ins Haus zu schicken, damit er mich und Caspar hierher ins Bergwerk lockte.
    Saraqujal machte einen weiteren Schritt auf mich zu. Vertraulich, ja nahezu anbiedernd fuhr er fort: »Sophie … wenn es sich hätte vermeiden lassen, hätte ich dich in all das nicht hineingezogen. Ich hätte dir das wirklich gerne erspart.«
    Seine Stimme klang bedauernd – aber ich wusste, dass er heuchelte. Von Anfang an hatte er darauf gesetzt, dass ich mitspielen würde. Erst hatte er meine Angst geschürt,

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