Der Fluch der Abendröte. Roman
Nathan gezwungen, sich als Nephil zu erkennen zu geben. Du hast mich in der Annahme bestärkt, dass du ein hilfloser, kranker Mann bist. Und du hast Aurora …«
Ich stockte. Zu ungeheuerlich war der Gedanke, der mir kam – und doch zugleich so schlüssig, nun, da ich wusste, wer er in Wahrheit war. Sein Einfluss war es, unter dem langsam die Nephila in ihr erwacht war. Durch beschwörende Blicke, vielleicht sogar durch Berührungen oder Worte, hatte er am Tag des Schulfests an ihr geheimes Erbe appelliert. Noch hatte es nicht mit aller Macht an die Oberfläche gedrängt, noch waren die Zeichen, die ihre Veränderung bekundeten, diffus – aber er hatte den Samen gesät, und der Schock durch ihre Entführung hatte sein Übriges getan, damit dieser Samen aufging.
»Sie bedurfte nur eines winzigen Anstoßes«, bestätigte er meine Vermutungen und machte eine Bewegung, als würde er sanft über ein unsichtbares Gesicht streicheln. »Ein Wunder, dass ihr es geschafft habt, diese Macht so lang im Zaum zu halten … diese unglaubliche Macht … Ja, ich musste mir keine besondere Mühe geben, sie zu erwecken.«
»Aber, warum hast du …«, setzte ich an, aber brachte den Satz nicht zu Ende.
Samuel Orqual … Saraqujal hatte offenbar beschlossen, dass er sich nun lange genug mit mir abgegeben hatte, und wandte sich Caspar zu.
Der hatte nach dem ersten Schrecken die Fassung wiedergefunden und straffte nun seinen Rücken. Widerstreitende Gefühle verzerrten sein Gesicht: Scheu kämpfte mit Spott, Unbehagen mit Belustigung, Hass mit Schadenfreude. Nicht nur sein Gesicht, sondern sein ganzer Körper verriet seine Anspannung; er setzte zum Sprung an, obwohl ich mir nicht sicher war, ob er lieber auf Saraqujal losgegangen oder vor ihm davongelaufen wäre. In jedem Fall wollte er alle Kräfte in sein Vorhaben legen.
In Caspars Gegenwart hatte ich damals das Gefühl gehabt, meine Sinne seien zu schwach, seiner Präsenz standzuhalten – und ähnlich musste nun auch Caspar gegenüber Saraqujal empfinden, dessen Anwesenheit eine ebenso einschüchternde wie belebende, zerstörende wie mitreißende Wirkung zu haben schien. Ich konnte ihm ansehen, wie sich sein Herz verkrampfte – und es längst nicht mehr kalt und leblos war, wie er vorhin noch behauptet hatte. Stattdessen pumpte es jahrhundertealte Gefühle durch seinen Leib, Gier nach Krieg und Gewalt, nach schonungslosem Kampf und nach Rache. Das war seine Natur. Dazu war er geboren und erzogen worden. Doch zugleich hatte er gelernt, dass diese starken Instinkte manchmal von einem nicht minder starken Willen bezwungen werden mussten, weil er nur so überleben konnte.
»Caspar von Kranichstein!«, rief Saraqujal mit freudiger Stimme.
»Wag es nicht, meinen Namen auszusprechen«, presste Caspar hervor, »du Ausgeburt an …«
»Lassen wir die Beleidigungen«, fiel Saraqujal ihm ins Wort. »Uns allen ist klar, dass wir keine Freunde werden, warum also Zeit verschwenden, unseren Hass zu beschwören oder das Gegenteil zu heucheln. Doch dass wir auf unterschiedlichen Seiten stehen, du ein Schlangensohn bist und ich ein Wächter, heißt nicht, dass wir einander nicht nützlich werden könnten.«
Noch ehe Caspar etwas sagen oder tun konnte, ertönte ein Klirren. Nathan zerrte wieder an den Ketten – und wieder war es ein sinnloses Unterfangen. »Du hast versprochen, dass ihr nichts geschehen wird. Nur deswegen …«
»Ich habe dich belogen«, unterbrach Saraqujal ihn kühl.
Nathans Finger umkrampften meine. Ich sah keinen Hass mehr in seinem Gesicht, nur Schmerz, tiefsten Schmerz, und ich wusste, dass dieser und all seine Sorgen nicht ihm selbst galten, sondern mir. Seine Finger waren so kalt, ich drückte sie dennoch fest. Nein, ich konnte sie nicht wärmen, aber ich konnte ihm zumindest das Gefühl geben, dass ich nun auch dies verstand – verstand, dass er sich Saraqujal ausgeliefert hatte, weil er darin die einzige Möglichkeit gesehen hatte, mich und Aurora zu schützen. Dass er ernsthaft angenommen hatte, Saraqujal ginge es nur darum, ihn – stellvertretend für seinen Sohn – zu bestrafen, weil er sich in all den Jahren seinen Pflichten widersetzt und sich hier versteckt gehalten und von Cara die Lüge hatte verbreiten lassen, er sei tot.
Es war ein Irrtum gewesen zu denken, dass Saraqujal sich damit zufriedengeben würde. Offenbar wollte er mehr, viel mehr – wenn ich auch nicht verstand, was genau.
Caspar schien es gar nicht erst wissen zu wollen. »In
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