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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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Sorge Kraft, sondern Hass und Wut. Ich stellte mir vor, dass ich mit dem Schraubenzieher Caspar traf, in sein grinsendes Gesicht schlug, auf sein schwarzes, glattes Haar, auf seine Spinnenhände, und so wurde das Loch immer größer und größer.
     
    Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Die Welt schrumpfte auf die Größe jener staubigen Wolke zusammen, in der ich mich befand. Das Atmen fiel mir unendlich schwer, doch meine Hände taten unermüdlich ihr Werk, schlugen unbeirrt weiter, bis das Loch irgendwann groß genug war, dass ich nicht nur meinen Kopf, sondern auch meine Schultern hindurchzwängen konnte. Lukas musste das von unten erkannt haben, denn er nahm nun alle Kraft zusammen, um sich noch höher aufzurichten und mich durch das Loch zu schieben. Ich betastete den Boden, fühlte noch mehr Staub, aber auch Holz. Ich stützte mich darauf ab, biss meine Zähne zusammen, versuchte meinen Körper hochzuziehen. Zunächst knickten meine Arme gleich wieder ein, doch ich nahm alle Kraft zusammen und versuchte es erneut. Diesmal gelang es, nicht zuletzt, weil Lukas mich gleichzeitig an meinen Füßen nach oben stemmte. Bald hatte ich meinen Oberkörper in den Hohlraum neben dem Loch gezogen und robbte Millimeter für Millimeter weiter, bis ich auch meine Beine hochziehen konnte. Im Hohlraum erwartete mich nichts anderes als noch trockenere Luft und Finsternis. Als ich vorsichtig die Wände abtastete, fühlten sie sich feucht an, aber vielleicht war das auch mein eigener Schweiß, der an meinen Fingern klebte. Ich fühlte mich wie in Trance. Mechanisch befolgte ich Lukas’ Befehle, ohne darüber nachzudenken, ob das, was er vorhatte, überhaupt zu schaffen sein würde. Er warf eine der Ketten hoch, und ich versuchte, sie an dem Holzpfosten, auf den ich vorhin gestoßen war, zu befestigen. Es knirschte fürchterlich, als sich Lukas an der Kette hochzog, und instinktiv rechnete ich damit, dass alles einstürzen und wir unter einem Haufen Schutt begraben werden würden. Doch ich fühlte mich viel zu müde, um Angst zu haben, und wenig später reichte mir Lukas die Taschenlampe, um sich dann tatsächlich selbst hochzuziehen, ungleich eleganter als ich. Ich ließ das Licht der Taschenlampe kreisen und erkannte, dass der Hohlraum groß genug war, um darin stehen zu können. Den erhofften Gang sah ich allerdings nicht.
    »Wir … wir sind immer noch gefangen …«, murmelte ich.
    Lukas ließ sich nicht entmutigen. Kaum war er auf seine Füße gekommen, begann er schon die Decke des Hohlraums abzutasten und schließlich – ich hatte ihm den Schraubenzieher gereicht – auf jene Stelle zu schlagen, wo ihm die Decke am dünnsten schien. Wenig später zwängten wir uns wieder durch ein Loch und zogen uns hoch, was dieses Mal nicht ganz so schwer war, da der Abstand zum Boden geringer ausfiel. Jetzt landeten wir nicht in einem weiteren Hohlraum, sondern endlich in einem Gang – auch wenn der gerade mal groß genug war, um auf allen vieren zu kriechen.
    »Sophie? Sophie!« Offenbar redete Lukas schon eine Weile auf mich ein, doch ich hatte ihn nicht gehört. Es fühlte sich an, als hätte ich Watte in meinen Ohren. »Sophie, mach jetzt nicht schlapp, ja? Ich krieche voran, du folgst mir. Sag mir Bescheid, wenn du eine Pause brauchst. Wir kommen hier irgendwie raus, das verspreche ich dir.«
    Lukas verschwand in dem schmalen Schacht, und ich kroch hinterher. Die Luft schien hier noch dünner zu sein, und bald tat mir jede Bewegung in dieser unnatürlich gekrümmten Haltung weh. Am meisten schmerzten meine Knie und Handflächen, auf die ich mich stützte. Doch so eng und beklemmend es auch war – ich folgte Lukas unbeirrt, nicht nur, wegen seiner beschwörenden Worte, sondern vor allem, weil ich Auroras Gesicht ganz deutlich vor Augen hatte.
    Sie war in der Nähe … sie war gefangen … ich musste sie finden …
    Einmal verschnauften wir kurz. Ich blickte zurück, doch von dem Hohlraum, aus dem wir gekommen waren, war nichts mehr zu sehen.
    »Wie tief sind wir wohl im Berg?«, fragte ich.
    Lukas zuckte mit den Schultern. »Insgesamt ist das Salzlager von Hallstatt 3000 Meter lang – und es geht bis zu 500 Metern tief in den Berg. Doch nicht alle prähistorischen Gänge sind erschlossen.«
    Und wir krochen weiter durch den engen, niedrigen Gang. Mit jedem Meter, den wir zurücklegten, wurde es kälter. Es war keine Eiseskälte, die einem den Atem raubt, eher eine modrige Kälte, die langsam jede Faser des Körpers

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