Der Fluch der Abendröte. Roman
trockenes Schluchzen entfuhr mir. Prompt war Lukas wieder an meiner Seite und stützte mich.
»Die Mädchen!«, beschwor er mich eindringlich. »Bitte, Sophie! Denk an die Mädchen! Hast du irgendeine Idee, wo sie sein könnten? Und diese Männer … diese merkwürdigen Männer … wer sind sie? Was wollen sie überhaupt? Warum sind sie so stark?«
Offenbar ging ihm auf, dass das zu viele Fragen auf einmal waren, und er biss sich auf die Lippen.
»Ich … ich kann es dir erklären … irgendwann … aber nicht jetzt …«, stammelte ich.
Er bedrängte mich nicht länger. »Jetzt zählen nur die Mädchen!«, rief er entschlossen.
»Wohin … wohin haben sie Nathans … Nathans …« Ich konnte das Wort Leichnam nicht aussprechen. »Wohin haben sie Nathan gebracht?«
Er zuckte hilflos die Schultern. Was immer er gesehen hatte, es musste – wie alles, was Nephilim taten – unglaublich schnell vor sich gegangen sein, viel zu schnell, als dass er es hätte begreifen können.
»Dieser alte Mann … er hat ihn getragen, als hätte er kein Gewicht. Es war merkwürdig. Und dieser andere, Caspar heißt er, oder? Er ist ihm gefolgt. Ich wollte ihnen nachlaufen, aber er hat mich einfach zurückgestoßen. Er ist unglaublich stark, auch wenn man ihm das nicht ansieht. Und dann hat einer der beiden die Tür versperrt. Ich habe schon versucht, sie zu öffnen, aber das ist unmöglich. Und dieser Stollen hier wurde längst stillgelegt. Hier hört uns niemand.«
Seine Worte waren längst verklungen, ehe ich ihre Bedeutung verstand: Wir waren eingesperrt, niemand würde uns befreien. Dies war Saraqujals Art, unliebsame Zeugen zu beseitigen, ohne dabei Gewalt einsetzen zu müssen. Und Caspar ließ es zu, weil er kein Interesse mehr an mir hatte – nur an Aurora. Sie war schließlich sein Lohn dafür, dass er Nathan getötet hatte. Endlich konnte er sich ihrer bemächtigen, wie er es schon seit so langem wollte … sie zur Nephila erziehen … zu einer, die auf der Seite der Schlangensöhne stand.
Der Gedanke, hier elendiglich zu verdursten, hatte mich kalt gelassen, aber als ich mir jetzt Aurora in Caspars Hände vorstellte, erfasste mich eine Woge unbändiger Wut und Verzweiflung.
Es war mir gleich, ob ich hier ewig gefangen blieb, ob ich nie wieder Tageslicht zu sehen bekäme, ob es die letzten, wenn auch warmen, aber trügerischen und unheilverkündenden Strahlen der Abendsonne gewesen waren, die ich jemals zu spüren bekommen würde. Ich hatte keine Angst mehr zu sterben, es schien vielmehr verlockend, würde ich auf diese Weise doch den Raubvögeln entgehen, die irgendwo dort oben lauerten und nur darauf warteten, wieder auf mich einzuhacken, mir kreischend vorzuhalten, dass Nathan tot war … tot … tot … tot. Und irgendwie war ich das ja selbst auch.
Aber Caspar durfte Aurora nicht bekommen!
Ich durfte mich nicht meiner Trauer überlassen, ich durfte nicht aufgeben, solange meine Tochter in Gefahr war!
Lukas trat zu mir. »Hast du eine Ahnung, wo die Mädchen sind?«, rief er eindringlich.
Ich schüttelte den Kopf. »Und selbst wenn ich es wüsste – wir kommen hier doch nicht raus.«
Nun war es Lukas, der den Kopf schüttelte – grimmig, entschlossen. »Das glaubt zumindest dieser Alte«, knurrte er.
»Aber …«
»Er hat offenbar nicht daran gedacht, dass ich hier im Bergwerk arbeite. Ich kenne hier jedes Eckchen, jeden Schacht, jeden Stollen, jede Kammer. Ich verspreche dir«, er ballte seine Hände zu Fäusten, »ich verspreche dir: Ich finde einen Weg nach draußen. Und dann suchen wir unsere Mädchen und bringen sie in Sicherheit.«
Lukas begann, erst die Wände, dann die Decke abzutasten. Um Letztere zu erreichen, genügte es nicht, sich auf die Zehenspitzen zu stellen – er musste sich vielmehr an einer der Ketten hochziehen. Zunächst sah ich ihm dabei zu und hatte abwechselnd das Gefühl, alles würde in Zeitlupe oder Zeitraffer vonstatten gehen, aber als Lukas die Ketten berührte und somit auch in das blaue Blut griff, senkte ich rasch den Blick.
Ich wusste, dass ich ihm wohl am besten half, wenn ich nichts anderes tat, als Panik und Trauer zu bezwingen, ganz ruhig zu bleiben und ihn in seiner Konzentration nicht zu stören. Ich sank auf den Boden, vergrub meinen Kopf in den Händen, atmete ruhig und versuchte mich meinerseits ganz auf Aurora zu konzentrieren. Vielleicht war sie ganz in der Nähe, vielleicht befand sich ihr dunkles Gefängnis gleich neben unserem. Und
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