Der Fluch der Abendröte. Roman
hektisch hin und her huschten – so … gejagt.
»Was ist schwierig?«, fragte ich leise.
»Alles …«, murmelte sie.
»Hat sein Verhalten vielleicht etwas mit seinen Eltern zu tun?«, bohrte ich nach. »Melden sie sich regelmäßig? Sie sind gerade in New York, nicht wahr?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mit ihnen ist alles in Ordnung. Und ja, natürlich rufen sie uns immer wieder an. Nein, damit hat es nicht zu tun, dass Marian …« Sie brach ab, rang mit sich, fügte nach einer Weile hinzu. »Ich glaube, was Marian vielmehr mit seinem Spiel hat ausdrücken wollen, war …«
Wieder brach sie ab.
»Ja?«, fragte ich.
Sie öffnete den Mund, wollte noch etwas sagen, als eine Regung, die ich selbst nur aus den Augenwinkeln wahrnahm, sie plötzlich verstummen ließ. Samuel Orqual, der eben noch völlig unbewegt und in sich zusammengesunken im Rollstuhl gesessen war, hob ruckartig seinen Kopf. Seine rechte Hand, der einzige Körperteil, der nicht gelähmt war, umklammerte die Lehne des Rollstuhls. Weiß traten die Fingerknöchel hervor. Ein Ächzen kam über seine Lippen – und blieb der einzige Laut. Offenbar wollte er noch mehr sagen, denn sein Mund, eben noch genauso zusammengepresst wie seine Augen, war weit geöffnet und schien ein Wort zu formen. Doch das Einzige, was hervorkam, war ein Speichelfaden.
Susanna Orqual war zusammengezuckt.
»Samuel?«, fragte sie erstaunt. Eine Weile starrte sie ihn fassungslos an, ehe sie rasch vortrat, um ihm den Speichel vom Kinn zu wischen. Doch kaum hatte sie die Hand nach ihm ausgestreckt, wich sie zurück, als hätte sie sich verbrannt. Nun war auch ihr aufgefallen, was selbst mir Kälteschauder über den Rücken jagte: Samuels Augen waren nicht einfach nur weit aufgerissen. Regelrechte Panik lag darin. Seine Pupillen schienen immer größer zu werden und das fleckige Grau der Iris fast ganz zu verdrängen. Das Weiß war rotgeädert. Während er starr in eine bestimmte Richtung blickte, umklammerte er die Lehne noch fester. Seine Lippen zitterten, sein Oberkörper, der sonst so schlaff war, als hätte er keinen einzigen Knochen mehr, spannte sich an.
Wieder ertönte ein Ächzen.
»Samuel, was hast du denn? Was …«
Ich hörte Susannas letzte Worte nicht mehr. Ich war Samuels entsetztem Blick gefolgt und sah zum Berg hoch, an dessen Fuß unsere Villa erbaut worden war. Ich nahm gelbes Herbstlaub wahr, unter dem die Wiesen braun und matschig standen, die fasrigen Wetterwolken, die baldigen Regen ankündigten. Dann fiel mein Blick auf etwas, was ich in all den letzten Jahren stets hartnäckig ignoriert hatte. Immer noch konnte ich diesem Anblick nicht standhalten, ohne zu zittern – dem Anblick von Caspar von Kranichsteins Anwesen.
Es stand leer, seit er vor fünf Jahren getötet worden war, doch die Erinnerungen an das, was dort geschehen war, waren höchst lebendig. Meist gelang es mir, sie zu verdrängen, aber nicht, wenn ich die raumhohe Glasfront betrachtete, die weißen Wände, die Hecke und …
Alles in mir verkrampfte sich. Meine Hände pressten sich ähnlich fest um das Gartentor wie die von Samuel Orqual um die Lehne seines Rollstuhls. Noch Stunden später würden die Druckstellen auf meinen Handflächen zu sehen sein.
Nein, nein, nein! Das konnte nicht sein!
»Frau Richter?«, fragte Susanne Orqual.
Ich musste kalkweiß geworden sein. Meine Knie waren kurz davor nachzugeben. Mein Blick war wohl ebenso schreckgeweitet und panisch wie der ihres Mannes. Ich sah das Gleiche, was auch Samuel Orqual gesehen haben musste: dass hinter einem der Fenster jemand stand – eine hochgewachsene, schlanke, schwarzgekleidete Gestalt.
Ich weiß nicht, wie lange ich da stand, einfach nur hinaufstarrte, gebannt, erschüttert – und genauso reglos wie die schwarze Gestalt am Fenster … dieser Mensch … dieses Wesen …
Es hatte seine Augen auf mich gerichtet. Schwarze Augen, abgründig tiefe, leere, kalte, hasserfüllte Augen.
Erst als Susanna Orqual erneut »Frau Richter!« rief, löste ich mich aus der Starre und fuhr herum. Anders als ich war sie nicht Samuels Blick gefolgt, sondern hatte sich über ihren Mann gebeugt. Der hingegen war wieder völlig in sich zusammengesunken: Der Kopf war nach vorne auf seine Brust gekippt, die Augen geschlossen, seine Hand umkrampfte nicht länger die Lehne des Rollstuhls, sondern ruhte in seinem Schoß.
»Frau Richter, haben Sie das auch gesehen?«, rief Susanna Orqual aufgeregt.
»Den schwarzen Mann auf dem
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