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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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Schlaganfälle nicht nur seiner Fähigkeit zu laufen, sondern auch zu reden ein Ende gesetzt hatten. Damals hatte Samuel Orqual offenbar größten Wert auf Höflichkeit gelegt, alle Regeln der Etikette in- und auswendig beherrscht, das Haus nie ohne besagten Hut verlassen und ihn immer kurz angehoben, wenn er jemanden grüßte.
    Während nun auch sie mir zunickte, blickte ich mich suchend um.
    »Wo haben Sie denn Marian gelassen?«, fragte ich neugierig.
    Susanna Orqual ließ ihren Kopf sinken – fast ähnlich tief wie ihr Mann.
    »Ich konnte ihn nicht mitbringen … aber seinetwegen sind wir hier.«
    Sie hob ihren Blick wieder und wirkte gehetzt, vor allem aber noch erschöpfter als sonst. In jungen Jahren musste sie eine außergewöhnlich schöne Frau gewesen sein, wie ihre feinen Züge verrieten, doch ihr strähniges Haar schien von Mal zu Mal, da ich ihr begegnete, schütterer zu werden, und die Falten, die sich in die schlaffe, grau wirkende Haut ihres Gesichts gegraben hatten, tiefer. Sie zwinkerte heftig – ein Tick, gegen den sie schon seit Jahren ankämpfte und den die ständige Überlastung nicht gerade minderte. Susanna bestand darauf, nicht nur ihren Mann ohne die Hilfe eines Pflegers zu versorgen, sondern auch den Enkelsohn, dessen Eltern beruflich viel unterwegs waren, mehr oder weniger allein aufzuziehen. Einem anderen Kind könnte man die ständigen Reisen vielleicht zumuten … aber nicht einem sensiblen, stummen Knaben wie Marian.
    »Was ist denn mit Marian?«, fragte ich.
    Susannas Blick flackerte noch stärker, als sie um eine Antwort rang, aber anstatt über ihren Enkelsohn zu sprechen, setzte sie unvermittelt hinzu: »Wir wollten uns auch noch einmal bedanken … für Ihre Hilfe auf der Tribüne … Wenn Sie nicht gewesen wären – es hätte schlimm für meinen Mann enden können.«
    »Ich hoffe, Ihr Mann hat alles gut verkraftet«, murmelte ich der Höflichkeit halber, obwohl ich mir sicher war, dass er den Einsturz der Tribüne kaum bemerkt hatte, so reglos wie er hinterher in seinem Rollstuhl gehockt hatte.
    Susanna nickte gedankenverloren, und als sie nicht weitersprach, sagte ich: »Marian hat sich sicher auch erschrocken, obwohl er nicht auf der Tribüne war, sondern alles nur beobachtet hat.«
    »Das ist auch der Grund, warum es ihm … nicht gutgeht«, erklärte Susanna hastig. »Und warum er bis auf weiteres nicht zum Klavierunterricht kommen wird.«
    »Ist er krank?«
    »So etwas in der Art …«
    Auf ihre Worte folgte ein Seufzen, lang und tief. Erst jetzt fiel mir auf, wie ihre Stirn vor Schweiß glänzte – ein Zeichen, dass sie wohl den Rollstuhl den ganzen Weg von Lahn, einem Vorort von Hallstatt, wo sie wohnten, bis hierher geschoben haben musste.
    Ich war verwirrt. War Marian nun krank oder nicht? Hatte dieser Zustand womöglich mit jenem rätselhaften Kindheitstrauma zu tun, seit welchem er nicht mehr sprach – und an das der Einsturz der Tribüne vielleicht unangenehme Erinnerungen geweckt hatte? Und warum hatte Susanna den anstrengenden Weg hierher auf sich genommen und Marian allein zu Hause gelassen, obwohl ein Anruf doch völlig genügt hätte?
    »Ich hoffe, dass es ihm bald bessergeht«, erklärte ich in der Hoffnung, mehr zu erfahren.
    »Es war nicht vorherzusehen. Ich muss … ich muss jetzt auch wieder zurück zu ihm«, stammelte Susanna Orqual nur und wendete so abrupt den Rollstuhl, dass der Kopf ihres Mannes wackelte.
    Meine Verwirrung wuchs. Ihre Stimme zitterte, als ob sie den Tränen nahe wäre.
    »Frau Orqual!«, rief ich ihr nach. »Was ich Sie noch fragen wollte …«
    Erst nach einigen Schritten blieb sie stehen. Sie drehte sich um und wirkte plötzlich so schuldbewusst, als wollte ich sie für ein Fehlverhalten zur Rede stellen.
    »Marians Auftritt beim Schulfest«, begann ich, »noch bevor der Unfall passiert ist – der war doch etwas … seltsam.«
    Susanna Orqual blickte mich zum ersten Mal, ohne zu zwinkern, an. »Wie meinen Sie das?«, fragte sie unerwartet schroff.
    »Nun, er hat nicht das Stück von Satie gespielt, das wir einstudiert haben. Sondern immer nur die Töne H, G und E. Können Sie sich das erklären?«
    Ihre Hände umklammerten den Griff des Rollstuhls. »Es ist alles sehr schwierig …«, setzte sie an, aber fügte nichts hinzu. Sie klang nicht einfach nur betroffen, sondern verzweifelt. Und sie selbst wiederum wirkte nicht länger nur erschöpft, sondern so verloren und – das kam mir in den Sinn, als ihre Augen erneut

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