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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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mich zu schwirren.
    Um mich nicht völlig von Trauer, Entsetzen, Angst, Panik einnehmen zu lassen, versuchte ich mich abzulenken. Mit den Fingern kämmte ich mir den Staub aus den Haaren, tastete dann meinen Körper ab, um zu fühlen, ob ich irgendwelche Verletzungen davongetragen hatte. Bis auf ein paar Kratzer und sicher auch blaue Flecken hatte ich die Explosionen heil überstanden.
    Ich hatte mich eben aufgerichtet, als ich glaubte, jemanden neben mir atmen zu hören. Vielleicht war dieses Geräusch eine Sinnestäuschung – und dennoch war ich mir plötzlich ganz sicher: Ich war nicht mehr allein.
    »Lukas?«, rief ich.
    Nein, es konnte nicht Lukas sein. Der Schein der Lampe hätte ihn angekündigt. Um mich war es stockdunkel, als plötzlich und aus der Finsternis eine Hand nach mir griff.
    Caspar von Kranichstein.
    Vor ihr stand der alte Erzfeind mit den schwarzen Augen, der fahlen Haut, den glatt nach hinten gekämmten Haaren, in gleicher Weise elegant wie abstoßend, faszinierend wie furchterregend.
    Bis eben hatte sie geglaubt, dass sie keine Erinnerungen an die damaligen Ereignisse gehabt hatte. Doch nun war Aurora sich sicher: Caspar von Kranichstein war immer irgendwie da gewesen, nicht in ihren Gedanken, aber in ihren Träumen. Den Blick aus seinen schwarzen Augen nachdenklich, sehnsuchtsvoll und gierig zugleich auf sich ruhen zu spüren war auf eine unangenehme Art erregend – und altvertraut. Es war, als würde sich dieser Blick in sie bohren, als würde sie das Schwarz seiner Augen einer Wolke gleich umhüllen, würde das Blau der eigenen Augen schlucken, bis sie farblos waren. Aber damit begnügte sich diese schwarze Wolke nicht, drang vielmehr in ihren Kopf ein und höhlte ihn aus. Ihr Herz, das eben noch so unruhig geschlagen hatte, schien sich zu verkrampfen – zu einem ebenfalls schwarzen Klumpen, leblos, kalt und starr wie sein Blick. Es schien ihr, als könne sie sich nie wieder rühren – und zugleich durchdrang doch ein seltsames Fieber jede Faser ihres Körpers.
    Sie konnte sich nicht dagegen wehren. Sein Blick fraß sie auf, zwang sie in die Knie, begnügte sich jedoch nicht damit. Sie hatte das Gefühl zu fallen, immer tiefer zu fallen, in ein bodenloses Nichts, in dem sie sich aufzulösen schien. Wobei – irgendetwas musste übrig bleiben. Irgendetwas konnte noch denken: Ich überlebe es nicht. Nein, ich überlebe das nicht.
    Doch da legte sich eine Hand auf sie, nicht Caspars Hand, wie sie zunächst meinte, sondern Mias. »Aurora, was hast du denn?«, fragte sie besorgt. Die Hand, die auf ihrer Schulter lag, war warm und weich.
    Und da war sie sich sicher, dass sie nicht sterben musste. Sie dachte nur: Ich muss Mia beschützen.
    Und etwas anderes fiel ihr ein: Sie war stärker als damals. Viel stärker. Damals, als er ihr das erste Mal gegenübergestanden hatte, war sein Einfluss so groß gewesen, dass er nicht nur die Nephila in ihr erweckt hatte, sondern sie zu einer der Schlangensöhne hätte machen können. Heute war die Nephila in ihr bereits erwacht – und auch wenn sie bis zu ihrem 14. Geburtstag jederzeit die Seite würde wechseln können, wusste sie bereits jetzt ganz sicher, was sie sein wollte: Eine der Guten. Eine Wächterin. Eine Grigori.
    Caspar löste sich aus seiner Starre und trat einen Schritt auf sie zu, sehr vorsichtig, fast lautlos, als wäre es verboten, in ihrer Gegenwart durchdringende Geräusche zu machen.
    »Aurora«, sagte er. »Die Göttin der Morgenröte.«
    Seine Stimme klang zischelnd und zugleich heiser, als fehlte ihr die letzte Kraft, als würde sich seine Kehle schmerzhaft zusammenziehen. Aurora schloss die Augen, und als sie diese wieder öffnete, hatte sie das Gefühl, das strahlende Blau hätte die schwarze Wolke ein wenig vertrieben. Eben noch hatte sie sich seinem Blick einfach nur ausgeliefert gefühlt – jetzt konnte sie ihn studieren, ihn deuten: Genugtuung stand darin, Spott, aber auch etwas anderes: Hingabe. So wie damals, auf dem Felsen, als Aurora Caspars und Nathans Kampf unterbrochen hatte, indem sie laut und deutlich seinen Namen gerufen hatte. Das tat sie jetzt wieder, einmal, zweimal.
    »Caspar von Kranichstein.«
    Sie hörte ihre eigene Stimme kaum, sie hörte nur Caras Stimme in ihrem Kopf.
    Du musst keine Angst vor ihm haben. Du nicht.
    Aurora wusste nicht, warum das so war, woher genau die Kräfte kamen, die heute in ihr erwacht waren, warum es diese Kräfte mit denen eines uralten Nephil aufnehmen konnten, sie wusste nur,

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