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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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nicht nur ohnmächtig, sondern tot war. Er bückte sich, wollte den dunklen Mantel zurückziehen, um mehr zu sehen als nur die Hand.
    »Nicht!«, stieß ich aus.
    Nathan … der Tote könnte Nathan sein … von Saraqujal hierhergeschleppt und achtlos liegen gelassen. Zwar hatte diese schreckliche, blaubefleckte Hand keine Ähnlichkeit mit jener warmen, zärtlichen, die mich so oft gehalten und gestreichelt hatte – aber ich wusste schließlich nicht, was Caspar ihm alles angetan hatte. Unmöglich konnte ich den Anblick seines schmerzverzerrten, womöglich entstellten Gesichts ertragen!
    Lukas ahnte, was in mir vorging. Er ließ seine Hand sinken, trat zu mir, strich beruhigend über meine Schultern.
    »Lass mich nachsehen, wer es ist …«, beschwor er mich.
    Meine Zähne klapperten, aber ich konnte kein zweites Mal widersprechen. Noch unerträglicher als Nathans Anblick war die Ungewissheit. Ich nickte schwach, und er beugte sich wieder über den Leichnam. Ich senkte zwar den Kopf, aber zwang mich, meine Augen offen zu halten.
    Nathan … was haben sie nur mit dir gemacht?
    Lukas hatte den Stoff ergriffen, zog ihn zurück; im Schein der Lampe war nun ein bleiches, ebenfalls mit blauem Blut verschmiertes Gesicht zu sehen …
    Lukas schrie auf und ich auch – jedoch nicht vor Entsetzten, sondern vor Überraschung.
    »Das … das ist nicht Nathan …«, stammelte er.
    Es war widersinnig, mich darüber zu freuen. Nathan war schließlich tot, egal, ob wir seinen Leichnam gefunden hatten oder nicht; dennoch fiel dieser beklemmende Mantel aus Trauer und Furcht von mir ab. Auf wackeligen Knien trat ich zu Lukas.
    »Wer ist es?«
    Lukas antwortete nicht, sondern stand auf und gab den Blick auf den Leichnam frei. Ich erkannte, dass der Stoff, der das Gesicht bedeckt hatte, eine schwarze Kapuze gewesen war, in die der bodenlange Umhang überging. Die Augen des Toten waren starr und weit aufgerissen, wirkten weniger erschrocken, als vielmehr verwundert. Als ich das letzte Mal in dieses Gesicht gesehen hatte, war die Haut leicht gerunzelt gewesen, nun war sie unnatürlich aufgebläht, war glatt – und sehr bleich. Die Haare, weiß und dünn, standen wie Igelstacheln vom Kopf ab. Der Mund des Toten war wie zum Schrei geöffnet, die Zungenspitze trat leicht über die Lippen heraus; ein dünner Faden blauen Blutes zog sich über das Kinn.
    Wie war es möglich, dass ausgerechnet …
er
tot war?
    Vor meinen Füßen lag Samuel Orqual … Saraqujal.
     
    »Warum …«, wollte ich sagen, doch aus meinem Mund kam nur ein Stammeln. Mein Erstaunen war so groß, dass ich nicht angewidert vor dem Toten zurückwich, sondern neben ihm auf die Knie ging, ihn weiterhin anstarrte, jedes grausige Detail registrierte: diese weiße Haut, die so wächsern wirkte, dieser starre Blick, das verkrustete, blaue Blut. Der Anblick war schrecklich – und doch wieder nicht. Denn es war nicht Nathan, der vor mir lag, sondern … sein schlimmster Feind.
    Ich fuhr zu Lukas herum und erblickte auch in seinem Gesicht fassungsloses Erstaunen. »Was geht hier vor?«, murmelte er. »Dieser alte Mann hier … er war doch Anführer … von was auch immer …«
    »Wer hat ihn nur getötet?«, konnte ich nur flüstern – und ahnte bereits die Antwort.
    »Egal, wer es war«, erwiderte Lukas bestimmt. »Wir müssen fort von hier, Sophie!«
    Mechanisch erhob ich mich – immer noch den Blick auf den Leichnam gerichtet. Trotz des Grauens stieg Befriedigung in mir auf.
    Er ist gescheitert … es ist ihm gelungen, Nathan zu töten … aber danach musste er selbst sterben … durch Caspars Schwert … ja, ich war mir sicher, dass Caspar ihn ermordet hatte.
    Lukas zog mich mit sich, und ich folgte ihm blind, ohne zu wissen, welchen Weg er nun nahm. So verworren dieses Labyrinth der unterirdischen Gänge war – meine Gedanken schienen immer klarer zu werden.
    Ja, Caspar hatte Saraqujal getötet – was wiederum bedeutete, dass Caspar das Bergwerk doch nicht so unwissend betreten hatte. Vielleicht hatte er alles von Anfang an geplant, hatte von Saraqujals Plan erfahren, Nathan gefangen zu nehmen und ihn, Caspar, selbst den Mord ausführen zu lassen. Er hatte sich schwach gestellt, damit ich in diesem Vorhaben meine Rolle spielen und ihn hierherbringen konnte – doch in Wahrheit war er nur darauf aus gewesen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: nicht nur Nathan zu töten, sondern auch einen verhassten Alten der Wächter. Er hatte Lukas und mich im

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