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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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ihr Bilder vorzugaukeln, die nicht der Wirklichkeit entsprachen?
    »Nein!«, diesmal rief sie es laut und zornig. »Nein, das kann nicht sein!«
    Ihre Gedanken schienen gegen eine Mauer zu laufen, von dort zurückzuprallen. Wenn sie tatsächlich stärker war als Caspar – wie konnte es ihm dann gelingen, diese Lügen heraufzubeschwören?
    Ehe sie endgültig an sich und ihren Kräften zweifelte, ehe ihre Ohnmacht und Wut noch weiter wachsen, ehe noch weitere verwirrende Bilder in ihrem Kopf aufsteigen konnten, hörte sie eine Stimme. Caspar runzelte kaum merklich die Stirn, als er sie vernahm. Er fuhr herum, genauso wie Aurora sich nun umdrehte.
    »Es ist keine Täuschung«, sagte die Stimme. »Genauso hat es sich zugetragen.«
    Aurora weitete die Augen. Sie starrte auf die Gestalt, die zu ihr trat. Diesmal bereitete es ihr keine Anstrengung, irgendwelche Gedanken zu lesen. Sie erkannte die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und sie zweifelte nicht länger daran.
    Im ersten Schrecken wollte ich meine Hand zurückziehen, doch jene andere, die wie aus dem Nichts gekommen und nach mir gegriffen hatte, hielt mich unbeirrt fest. Sie wirkte nicht bedrohlich – war vielmehr warm, weich und klein. Eine Kinderhand. Die Hand von Marian. Dessen war ich mir plötzlich sicher, obwohl ich ihn nicht sehen oder hören konnte.
    »Marian … Marian … was …«
    In der Ferne war ein dumpfer Hall zu hören. Ungeduldig zerrte Marian an meiner Hand – er wollte mich offenbar von hier fortbringen.
    »Nicht!«, wehrte ich mich. »Ich muss hier warten – auf Lukas!«
    Obwohl er nichts sagte und es weiterhin stockdunkel war, glaubte ich den Ausdruck von Verzweiflung auf seinem Gesicht spüren zu können. Wieder zog er an meiner Hand, diesmal etwas vorsichtiger, halbherziger. Als Nephilim-Kind verfügte er im Ernstfall doch über größere Kräfte, oder nicht? Könnte er sie nutzen, um mich gewaltsam von hier fortzubringen?
    Ob er es nun nicht konnte oder nicht wollte – er zögerte.
    »Wir warten auf Lukas«, wiederholte ich.
    Ich versuchte nach ihm zu greifen, ihm über den Kopf zu streicheln. Zuerst verfehlte ich ihn, griff ins Leere. Dann spürte ich seine bebenden Schultern, schließlich einen Kopf, den er mit Inbrunst schüttelte. Wieder konnte ich seine Verzweiflung fast körperlich spüren, sie schien auf mich überzugehen, mir den Atem zu rauben. Wusste er, dass sein Großvater tot war?
    Ich brachte es nicht über mich, ihn zu fragen, beugte mich stattdessen zu ihm hinunter und umarmte ihn. Ich fühlte, wie über seine Wangen heiße Tränen liefen. Kurz kam mir in den Sinn, dass Marian womöglich gefährlich sein könnte, ein Verbündeter von Saraqujal. Doch für mich war und blieb er vor allem ein Kind. Dass er auch ein Nephilim-Kind war, machte keinen Unterschied – höchstens den, dass er mich an meine kleine Aurora erinnerte und ich mich umso mehr verantwortlich für ihn fühlte.
    So hätte sich auch Aurora entwickeln können, wenn ihre Verwandlung durch den Unfall nicht schlagartig gestoppt worden wäre, ging es mir durch den Kopf – zu einem zwar besonderen Kind, aber auch einem einsamen, einem mit vielen Talenten, aber auch einem, das von allen anderen ausgeschlossen war, weil es stets das Geheimnis seiner Existenz hüten musste.
    Nach einer Weile löste sich Marian aus meinem Griff, und aus seinem Mund kam ein erstickter Laut, vielleicht ein Schluchzen, vielleicht war es aber auch der missglückte Versuch zu sprechen.
    Wieder packte er mich an der Hand und zog energisch daran.
    »Ich muss doch warten …«
    Ich sah es nicht und war mir doch sicher, dass er vehement den Kopf schüttelte.
    »Nein, Marian, nein! Ich kann doch nicht!«
    Er hielt mich unerbittlich fest, zerrte an mir. So schüchtern wie er ansonsten war, bedeutete das sicher eine große Überwindung für ihn. Es musste ihm sehr wichtig sein.
    Ich zögerte noch, machte dann aber einen ersten, vorsichtigen Schritt in seine Richtung. Lukas würde vielleicht nicht verstehen, warum ich Marian vertraute, umso mehr aber, dass ich mir keine Chance entgehen lassen konnte, die Mädchen zu finden.
    Marian legte nun meine Hand auf seine Schulter, offenbar ein Zeichen, dass ich mich daran festhalten sollte. Ich fühlte, dass er eine Strickweste anhatte, staubig wie meine eigene Kleidung. Mir kam ein Einfall.
    »Ich komme mit dir«, sagte ich, »aber wir müssen Lukas ein Zeichen geben, wohin wir gehen.«
    Wieder entwand sich seiner Kehle ein eigentümlicher Laut.

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