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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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Diesmal war ich mir sicher, dass es kein Schluchzen war, es klang eher wie ein einzelner Ton. Ja, er konnte nicht reden, aber er konnte Töne summen – so wie er damals am Klavier die Tonleitern gespielt hatte, um mich zu waren. GEH !, war damals seine Botschaft gewesen. Jetzt erklang ein A.
    »Du weißt, wo Aurora ist, ja? Du führst mich zu ihr!«
    Als Antwort verstärkte er das Summen. Ja, das war eindeutig ein A. Jetzt konnte es mir gar nicht schnell genug gehen, ihm zu folgen, aber ich gab meiner Hast nicht nach, sondern brachte ihn dazu, seine Strickjacke auszuziehen. Er überließ sie mir willig und hielt mich nicht davon ab, als ich einen Faden herausriss und das Gestrick aufzutrennen begann. Vielleicht würde er reißen, vielleicht war er nicht lange genug. Dennoch: Es war meine einzige Möglichkeit, Lukas einen Hinweis darauf zu geben, in welche Richtung ich gegangen war. Ich klemmte den Anfang des Fadens unter mehreren Steinen fest, dann legte ich wieder meine Hand auf Marians Schultern, um ihm anzudeuten, dass wir nun gehen konnten.
    Trotz der Dunkelheit schien er sich mühelos zurechtzufinden. Zielstrebig führte er mich in eine bestimmte Richtung, ohne dass er sich an den Wänden der engen Gänge stieß. Manchmal blieb er stehen – ein Zeichen, wie ich bald herausfand, dass ich den Kopf senken sollte. Sein Sehsinn war ungeheuer geschärft – was vielleicht an seinem Nephilim-Erbe liegen mochte, vielleicht aber auch an der Tatsache, dass er stumm war und die anderen Sinne den fehlenden stets ersetzt hatten. Caspar hatte sich schließlich trotz seiner Fähigkeiten nicht in der Finsternis zurechtfinden können – was womöglich, wie mir nun in den Sinn kam, ein Trick gewesen sein konnte, um mich in Sicherheit zu wiegen.
    Caspar … verfluchter Caspar …
    Immer noch war aus der Ferne ein Krachen zu hören und auch das Vibrieren des Bodens ließ nicht nach, doch wir liefen immer weiter davon weg als darauf zu.
    Hoffentlich ging es Lukas gut, bat ich im Stillen. Hoffentlich kann er das Schlimmste verhindern …
    Marian beschleunigte seinen Schritt, begann nun zu rennen. Da es mir nicht schnell genug gehen konnte, folgte ich ihm trotz meiner schmerzenden Glieder. Die Dunkelheit schien nicht mehr ganz so tiefschwarz zu sein. Ich glaubte, Konturen zu erkennen, hörte jetzt das Rauschen von Wasser. Vielleicht kamen wir an Rohren vorbei, die die Sole aus dem Berg pumpten, vielleicht an einem unterirdischen Salzsee.
    Trotz des Tempos hörte ich nicht auf, die Strickjacke aufzutrennen, damit Lukas später den Weg finden konnte. Einmal riss der Faden, und ich musste stehen bleiben, um die gerissenen Enden neu zu verknoten. Obwohl es noch zu finster war, spürte ich Marians Blick, mahnend und ungeduldig zugleich. Vorhin, als ich ihm endlich gefolgt war, war er verstummt, nun begann er wieder den Ton zu summen. Das A, immer nur das A.
    Drängte er mich zur Eile, weil Aurora in höchster Gefahr war?
    Meine Hände zitterten, doch dann hatte ich endlich den Knoten geschlungen und nickte in Marians Richtung, um ihm anzudeuten, dass es weitergehen konnte. Und wieder liefen wir, liefen durch Gänge und Kammern, liefen schließlich einer Lichtquelle entgegen; aus dem Schwarz wurde ein Grau, und aus dem Grau ein blasses Gelb. Die Strickjacke von Marian war nun vollständig aufgetrennt, doch ab hier konnte Lukas dem Licht folgen. Ich band das Ende des Fadens um einen Holzpfosten und konnte nun sehen, dass Marian die Stirn runzelte. Er schien mir außergewöhnlich blass zu sein – aber das lag möglicherweise auch an der dünnen Staubschicht auf seinem Gesicht.
    Wieder erklang der Ton aus seinem Mund.
    »Wenn ich nur wüsste, was du mir sagen willst …«
    Sein Summen brach ob, offenbar sah er ein, dass es keinen Sinn hatte, mir diese geheimnisvolle Botschaft wieder und wieder mitzuteilen. Er nahm mich erneut an der Hand, zog mich weiter. Das Licht wurde greller. War es künstliches Licht oder Tageslicht? Nein, Letzteres konnte es nicht sein: Wenn mein Zeitgefühl nicht vollends trog, war es mitten in der Nacht. Dennoch war ich mir sicher, dass dort hinten ein Ausgang wartete, wir endlich das Innere des Berges verlassen würden. Und noch ein anderes Gefühl wurde übermächtig. Aurora … ich wusste, dass Aurora in der Nähe war … ich fühlte es …
    Es ging nun bergauf. Eine Stufe folgte auf die nächste. Sie waren unterschiedlich hoch und glitschig. Ich musste achtgeben, nicht auszurutschen, und merkte darum

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