Der Fluch der Abendröte. Roman
sondern sah weiter Marian an, der nun ganz nahe an uns herangetreten war und seinen Blick senkte, als wäre er zu schwach, ihrem noch einen Augenblick länger standzuhalten.
»Was soll er mir gesagt haben?«, fragte ich.
Ehe Aurora sich mir wieder zuwandte, schluchzte Mia hinter uns auf. Ich ging zu ihr, wollte auch sie umarmen – so verstört wie sie schien.
»Es wird alles gut«, sagte ich. »Dein Vater … dein Vater wird bald zu uns stoßen. Ich bin sicher …«
Meine Worte gingen in Mias lautem Weinen unter. Sie versteifte sich unter meiner Umarmung, entwand sich mir, schlug ihre Hände vors Gesicht. Ich war zwar irritiert, dass sie sich gegen mich wehrte, aber dachte mir, dass es gleichermaßen Schock und Erleichterung waren, die sich nun Bahn brachen.
»Ganz ruhig, Mia, ganz ruhig«, murmelte ich beschwichtigend.
Ehe sie antworten und ich noch mehr sagen konnte, ehe ich begriff, wohin wir überhaupt geraten waren und wie wir am besten fliehen konnten, ehe ich deuten konnte, was zwischen Aurora und Marian vor sich ging, ließ mich ein Geräusch innehalten. Aus den Augenwinkeln nahm ich eine schwarze Gestalt wahr. Mia zuckte zusammen, presste sich an die Wand. Ich fuhr herum.
»Du … !«, rief ich – entsetzt und wütend zugleich, voller Furcht, aber auch voller Hass.
Caspar von Kranichstein stand hinter mir.
Obwohl ich ihn nur flüchtig musterte, erkannte ich sofort, wie sehr er sich in den letzten Stunden verändert hatte. Von dieser Trägheit, dieser vermeintlichen Gleichgültigkeit war nichts geblieben. Mit dem Caspar von früher hatte er jedoch ebenso wenig gemein. Dieser hatte stets so elegant, so selbstbeherrscht, so steif gewirkt, während nun etwas Nervöses, Gehetztes, tief Beunruhigtes in seinen Zügen lag. Seine Haare standen wirr von seinem Kopf ab, sein Blick flackerte, seine Lippen waren aufeinandergepresst, seine Hände schienen zu zittern. Ja, er war angespannt – er war ängstlich!
Doch das war nichts, was meinen Hass auf ihn verminderte.
»Du Scheusal!«, entfuhr es mir. Er achtete gar nicht auf mich, sein Blick war vielmehr starr auf Aurora gerichtet. Sie betrachtete ihn ihrerseits – und kurz glaubte ich wieder jene Macht wahrzunehmen, mit der sie Marian beruhigt und ihn dazu gebracht hatte, den Kopf zu senken. Doch ich nahm mir nicht die Zeit, zu ergründen, was da genau zwischen ihr und Caspar vor sich ging.
Ich sprang nach vorne und stellte mich vor Aurora – folgte blind dem Instinkt, mein Kind zu schützen, so sinnlos dieses Trachten angesichts meiner begrenzten Mittel auch sein würde.
»Sophie, es ist keine Zeit …«, setzte Caspar an und wurde jäh von Aurora unterbrochen: »Sie weiß es noch nicht!«
Ganz offensichtlich sprach sie von mir, aber anstatt zu fragen, was ich noch nicht wusste, schob ich mich nur weiter vor sie. Ich glaubte zu fühlen, wie sich ihre blauen Augen förmlich in meinen Rücken brannten.
»Wir können es jetzt nicht erklären, wir müssen …« Caspars Stimme war nicht einfach nur blechern wie sonst, sondern so heiser, als hätte er eine große Anstrengung hinter sich. »Sophie …«, erstmals löste er seinen Blick von Aurora und sah mich an, »Saraqujals Plan ging viel weiter, als wir dachten«, erklärte er hastig. »Es ging ihm gar nicht um Nathan und seinen Ausschluss aus dem Rat. Nicht nur, zumindest.«
Allein Nathans Namen aus seinem Mund hören zu müssen tat mir körperlich weh.
»Ich habe mich geirrt«, setzte Caspar hinzu. »Saraqujal gehörte nicht zu jenen, die die Nephilim zu Gehorsam erziehen wollen. Das habe ich zunächst zwar gedacht, warum sonst sollte er sich so über Nathan ärgern. Aber nein, stattdessen ist er für den Krieg verantwortlich. Begreifst du, was das bedeutet?«
Nein, ich begriff es nicht – begriff nur, dass er näher kam, immer näher kam, nun seine Hand ausstreckte. »Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte er. »Wir sind in Gefahr.« Blaue Ringe – sichtbare Zeichen der Erschöpfung – waren unter seinen Augen. Er stand so dicht vor mir, dass ich die Kälte fühlen konnte, die von ihm ausging. Dennoch wich ich keinen Schritt zurück, versteifte mich, wappnete mich instinktiv dagegen, dass er mich durch den Raum stoßen würde wie vorhin in Nathans Gefängnis.
»Lass sie in Ruhe!«, presste ich hervor. »Lass meine Tochter in Ruhe! Ich habe dich durchschaut! Von Anfang an ging es dir darum, nicht wahr? Sie mir zu stehlen! Sie zu deinem Kind zu machen! Mich hast du damals verloren –
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