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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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dieses Nichts hinein. Die Luft wurde stickiger, die Staubwolken dichter. Endlich blieben wir stehen, Lukas hatte sein Ziel erreicht. Ich blickte mich um und glaubte hinter den Staubwolken etwas Metallisches zu sehen, das einer überdimensionalen Pumpe glich. Vage erinnerte ich mich daran, was Lukas bei unserem gemeinsamen Abendessen über den modernen Bergbau erzählt hatte. Das Salz wurde demnach von Wasser aus dem Stein gelöst – und dieses mit Hilfe von zwei Pumpen in die Tiefe geleitet: Eine brachte das Süßwasser nach unten, das später einen Hohlraum entstehen ließ, die zweite Pumpe leitete die Sole wieder nach oben. Waren wir in jenem Raum, der Hornstätte genannt wurde und von der aus der Schacht nach unten führte?
    Ich lauschte angestrengt. Die Sirene war kaum mehr zu hören, das Hallen der einstürzenden Stollen noch immer gewaltig, aber ziemlich weit entfernt. Stattdessen vernahm ich nun ein Plätschern – und glaubte zu begreifen: Die Explosionen in den älteren Stollen waren nur ein Ablenkungsmanöver gewesen, um alle Bergarbeiter aus dem Bergwerk zu vertreiben. Hier, in der Nähe der Leitung, die die Sole nach Ebensee brachte, war Lukas nun ganz allein mit mir. Offenbar hatte er nicht im Sinn, mich unter einer Masse von Geröll zu begraben, offenbar wollte er …
    »Was … was hast du vor?«, stammelte ich.
    Er antwortete mit jener belehrenden, etwas nachsichtigen Stimme, mit der er damals beim Abendessen über seine Arbeit gesprochen hatte. Dass wir tatsächlich in einem Hohlraum waren – man bezeichnete ihn als Laugkaverne –, dass dieser aber noch nicht endgültig ausgesolt war. Dass es folglich unumgänglich war, noch mehr Wasser einzuleiten. Ich blickte mich um, aber es war zu finster, um die Ausmaße dieses Raums zu erkennen. Der Boden, so wurde mir zumindest klar, war ziemlich feucht. Auch von den Wänden tropfte es.
    Lukas folgte meinem Blick. »Im Vergleich zum Erz- oder Steinkohlenbergbau stellt Wasser für ein Salzbergwerk eine sehr große Gefahr dar«, erklärte er mit sichtlicher Schadenfreude. »Man stelle sich nur vor, dass Grund- oder Sickerwasser eindringt. Es würde nicht nur das Salz auflösen, sondern die Hohlräume zerstören … Salzwasser ist nicht gefährlich, da dieses kein weiteres Salz auslösen kann, umso mehr aber Süßwasser.«
    Er überließ es mir, mich zu bücken, meinen Finger in die Pfütze zu halten, das Wasser zu schmecken. Ich hatte es geahnt und war nun doch entsetzt: Ich stand nicht in Salz-, sondern in Süßwasser.
    »Was hast du nur getan?«, rief ich.
    Lukas schüttelte den Kopf. »Eine echte Katastrophe«, meinte er vermeintlich bedauernd. »Scheinbar wurde ein Bohrloch beschädigt oder vielleicht das Spülrohr, das das Süßwasser in den Berg bringt.«
    »Du, du hast es zerstört …«
    Sein Grinsen wurde breiter. »Ich fürchte, auch das Zentralrohr, das die Sole wieder nach oben pumpen soll, ist nicht mehr ganz funktionstüchtig.«
    »Lukas, du bist wahnsinnig!«
    Das Plätschern wurde lauter. Irgendwo schienen sich Wassermassen zu stauen – Wassermassen, die alsbald über uns hereinbrechen und den Hohlraum fluten würden, in dem wir erbärmlich ertrinken würden.
    Lukas schien meine Gedanken zu lesen: »Es tut mir leid, Sophie«, flüsterte er, »wir hätten glücklich werden können … wirklich glücklich.«
    »Nie … niemals …«
    »O doch. Die Trauer hätte uns geeint. Ich hätte dich so gut verstanden. Nach dem Verlust meiner Frau weiß ich doch, wie es sich anfühlt, einen geliebten Menschen zu verlieren. Ich hätte dich getröstet. Und außerdem wäre ich dein Held gewesen, nachdem ich dich aus dem Bergwerk und die Mädchen aus der Hand ihrer Entführer gerettet hätte. Es hätte Zeit gebraucht, aber nach einigen Monaten hättest du Nathan vergessen.«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Ich habe dir vertraut … ich habe dir wirklich vertraut! Und vielleicht hätte ich dir auch weiterhin vertraut. Aber niemals hätte ich Nathan vergessen!«
    »Mag sein. Aber sei doch mal ehrlich: Hast du dir nicht oft vorgestellt, wie es sein würde, mit einem ganz normalen Mann zu leben? Mit ihm noch mehr Kinder zu bekommen … ganz normale Kinder?«
    Danach hatte ich mich insgeheim tatsächlich gesehnt, aber nun bereitete mir allein die Vorstellung, dass Lukas’ Plan tatsächlich hätte aufgehen können, Übelkeit. Sein Griff hatte sich etwas gelockert, und das Grauen vor ihm überkam mich so heftig, dass ich seine Hand zurückstieß, gegen sein

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