Der Fluch der Abendröte. Roman
auch alles sehen zu können.
Mathilda war nicht bei einem Unfall gestorben, wie Lukas aller Welt – auch Mia – hatte glauben machen. Sie war damals vor fünf Jahren vielmehr zwischen die Fronten eines Krieges geraten, eines uralten Krieges, des Krieges zwischen den Wächtern und den Schlangensöhnen – und sie war ihm zum Opfer gefallen.
Sie war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen – sie, die freundliche, liebenswerte Frau, die das Bergsteigen liebte und darum vor fünf Jahren mit der Familie den Urlaub in Hallstatt verbrachte – genau zu der Zeit, als Caspar von Kranichstein seine Anhänger im Kampf gegen Nathan um sich geschart hatte. Aurora war damals gerade sieben Jahre alt geworden, ihre Wandlung hatte begonnen, und um Kräfte zu sammeln, verübten Caspar und seine Mitarbeiter grausame Morde – an gut trainierten Sportlern vor allem, deren körperliche Fähigkeiten und Vitalität sie übernahmen, indem sie sie verbluten ließen. Mathilda war keine dieser Mountainbiker und Jogger, aber sie kam bei einer Wanderung auf den Saarstein zufällig hinzu, als Caspar und seine Schar über zwei Männer herfielen. Auch sie wurde ermordet – nicht ihrer Kräfte wegen, sondern weil sie eine unliebsame Zeugin war.
Sie war mit Mia unterwegs gewesen, trug ihre müde Tochter auf dem Rücken und konnte sie noch schnell hinter einem Stein verstecken, als es gefährlich wurde. Sie konnte die Tochter davor bewahren, getötet zu werden – aber sie konnte sie nicht vor diesem Anblick schützen: dem Anblick blutrünstiger Nephilim, die ihre Mutter angriffen.
Später tat man Mias Erzählungen als schaurige Phantasien ab – als Auswüchse einer durch den Tod der Mutter völlig überforderten Psyche – und redete ihr so lange ein, dass ihre Mutter bei einem Unfall gestorben sei, bis sie es glaubte. Auch Lukas setzte alles daran, dass Mia die Wahrheit verdrängte. Aber anders als sie selbst vergaß er die Schilderungen nicht – vor allem nicht die über den dunkel und altmodisch gekleideten Mann, der die grausame Schar angeführt hatte.
Er stellte Nachforschungen an, ließ bei der Polizei nicht locker, erfuhr von dieser, dass es eine Sekte gewesen sei, die all diese Morde, auch den an Mathilda, verübt habe. Die Mitglieder dieser Sekte hätten sich am Ende selbst getötet – und ihr Anführer, Caspar von Kranichstein, wäre spurlos verschwunden. Man suchte ein Weile nach ihm, dann stellte man die Suche aber ein.
Mathildas Tod blieb also ungeahndet – womit die Behörden gut leben konnten, Lukas hingegen nicht. Er schwor sich, dass er Caspar von Kranichstein finden würde – oder zumindest den Beweis, dass dieser tatsächlich tot war –, und fortan tat er nichts anderes mehr als nach Hinweisen, nach der Wahrheit zu suchen. So lange, bis er auf Caspar stieß. So lange, bis er erkannte, dass der kein normaler Mann war. Was er genau war, das wusste er nicht, aber das war ihm auch nicht so wichtig. Wichtig war, Rache zu nehmen – und dass Samuel Orqual ihm dabei helfen wollte.
Der stand eines Tages vor ihm und erklärte grußlos, dass sie sich zusammentun sollten, weil sie ein gemeinsames Ziel hätten: Sie wollten beide Caspar von Kranichstein tot sehen – ihn und seine ganze Brut. Lukas fragte nicht, welche Rechnung Saraqujal mit ihm zu begleichen hatte, er hinterfragte auch nie die Anweisungen, die Saraqujal ihm gab, er war einfach nur erleichtert, dass die Zeit der Rache endlich gekommen war.
Alles, alles war bis ins Kleinste geplant. Lukas, der bis jetzt nur seinen Urlaub in Hallstatt verbracht hatte, zog mit Mia dorthin um. Es war Teil des Plans, dass er die Freundschaft zwischen Mia und Aurora förderte und selbst verstärkt den Kontakt zu Sophie suchte. Sogar, dass die Mädchen entführt wurden – wenn auch nur unter der Bedingung, dass Mia nicht zu Schaden kommen würde. Ihre Angst, ihren Schock nahm er billigend in Kauf – genauso wie er es als notwendiges Opfer verstand, dass ihm selbst Verletzungen zugefügt wurden. Die mussten eben sein, damit Sophie nicht misstrauisch wurde und damit sie Caspar suchte und ihn ins Bergwerk brachte.
Als die beiden dorthin aufgebrochen waren, war Lukas ihnen nicht zufällig, sondern planmäßig gefolgt. Und als Caspar ihn zu erkennen schien – »Das ist Mias Vater?« –, hatte er selbst Sophie niedergeschlagen, damit sie die Wahrheit nicht erfahren würde.
Caspar und Nathan konnten vorerst nichts dagegen tun – denn Caspar war damit beschäftigt,
Weitere Kostenlose Bücher