Der Fluch der Abendröte. Roman
unerwarteter Ausdruck: der von Mitleid. »Du bist dir doch im Klaren, dass du dein erbärmliches, kleines Leben nicht einfach so wirst weiterführen können. Wie es aussieht, ist es mit dem Menscheln vorbei.«
Ich erschauderte, fühlte, wie Kälte an mir hochkroch. Ich wusste nicht, was es bedeutete, dass in Aurora nicht nur ihr Nephilim-Erbe erwacht war, sondern dass sie darüber hinaus eine der Weisen war – ich wusste nur, dass sie nie mehr ganz mein Kind sein würde, dass ich sie fortan mit dieser nicht nur fremden, sondern zutiefst befremdenden Macht teilten musste.
Nathan ließ Aurora los und stellte sich hastig vor mich, als Caspar den Anschein machte, auf mich zuzutreten. »Lass sie in Ruhe!«, fuhr er ihn an.
»Ach ja?«, höhnte Caspar. »Ich soll mich jetzt einfach wortlos zurückziehen? Wenn ich mich recht erinnere, hattet ihr meine Hilfe eben noch bitter nötig.«
»Du selbst warst bereit, mit mir einen Waffenstillstand zu schließen.«
Caspar bleckte seine Zähne, und sein Gesichtsausdruck glich einmal mehr dem eines Raubtiers. »Ein Waffenstillstand, der jetzt genau betrachtet keinen Sinn mehr macht …«
Wieder bemächtigte sich Anspannung seines Körpers – und noch etwas anderes: purer Blutrausch. Was ihn davon abhielt, auf Nathan loszustürzen, war nicht mein verzweifeltes Rufen, nicht Nathans kalter Blick, nicht Marian, der Mia eben losließ, vortrat, wieder etwas zu sagen versuchte, aber es nicht konnte – nein, ein Geräusch hielt ihn ab, etwas, was ich noch nie gehört hatte, vielleicht niemals wieder in gleicher Intensität hören würde und was mir bis zum Ende meines Lebens in Erinnerung bleiben würde.
Caspar wurde blind für Nathan. Er fuhr herum, wie wir alle es taten – gebannt und fasziniert, aber auch beunruhigt und voller Furcht.
Die Erde vibrierte. Sie erzitterte nicht wie bei einem Erdbeben oder wie vorhin bei den Explosionen im Bergwerk – es war vielmehr so, als würde sich ihre Oberfläche schmerzhaft zusammenziehen, als würden sich alle Bäume, Büsche und Gräser ducken und selbst der kalte Stein zittern. In der Luft lag eine Spannung, als stünde ein Gewitter bevor, doch was da diesen dämmrigen Himmel erleuchtete, waren keine Blitze, eher Lichtfunken, nicht ganz so grell, aber unangenehm in den Augen. Der Wind fauchte wie ein wildes Raubtier, innerhalb weniger Sekunden schien die Temperatur ins Bodenlose zu fallen. So aufgeladen die Luft auch war – etwas saugte förmlich jegliche Wärme aus ihr heraus. Ich wollte mich umsehen, doch Nathan zog mich hastig an sich und barg meinen Kopf an seiner Brust. Schützend hielt er mich mit beiden Händen fest, und im nächsten Augenblick begriff ich auch, warum er das tat. Der Wind wehte plötzlich so heftig, dass er mich sicher umgerissen hätte, hätte Nathan mich nicht geschützt. Die Geräusche, die nun von allen Seiten kamen, schienen meinen Kopf platzen zu lassen. Sie waren nicht wirklich laut, jedoch erschreckend eindringlich. Von der einen Seite kamen diese blechernen, quietschenden, metallischen, säuselnden Laute der Schlangensöhne – von der anderen das Raunen und Flüstern der Wächter. Vereinzelt vernahm man Klirren – doch noch wurden die Schwerter nicht gegeneinandergeschlagen, sondern lediglich aus ihre Scheiden gezogen. Und dann war es plötzlich still. Nein, nicht einfach nur still, sondern totenstill. Nie zuvor hatte ich besser begriffen, warum man eine Stille tot nennen konnte. Als ich langsam meinen Kopf hob, schien es, als wäre das Fleckchen Erde, worauf ich und an die hundert Nephilim standen, von der restlichen Welt abgeschnitten worden. Irgendwo gab es noch die Welt der Menschen – Menschen, die verzweifelt ins Bergwerk stürmten, zu retten versuchten, was zu retten war, Menschen, die schrien und Befehle erteilten, die die Nachricht vom Einsturz verbreiteten. Doch zwischen jener Welt und dieser zog sich eine unsichtbare Grenze. Hier gab es kein einstürzendes Bergwerk – hier gab es nur dieses Stück … Nichts.
All diese Wesen, die herbeigekommen waren – von Saraqujal offenbar hierherbestellt –, standen nun völlig erstarrt, als wären sie längst tot.
Erschreckend war es, sie anzusehen – und zugleich faszinierend. Vorhin hatte ich den Eindruck, dass sie von allen Seiten kommen würden – nun wurde es offensichtlich, dass sie zu zwei Lagern gehörten, zwischen denen eine Trennlinie von einigen Metern klaffte. Hinter dieser Linie schien ein jeder nicht zufällig seinen
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