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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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Kopf und sah, dass sie die ganze Zeit über starr vor mir gestanden hatte. Auch ihre Kleider waren nass, doch die Haare klebten ihr nicht im Gesicht, sondern hatten sich in der frischen Luft gekräuselt. Sie wirkte müde, nahezu erschöpft, aber das Atmen schien ihr nicht die gleichen Schmerzen zu bereiten wie mir.
    Ich versuchte wieder aufzustehen, aber meine Knie zitterten zu stark. Aurora streckte ihre Hand nach mir aus, und ich ergriff sie, ergriff sie mit so viel Liebe, so viel Dankbarkeit. Und so viel Befremden. Es war die Hand meiner Tochter, die ich hielt, und doch wieder nicht. Es war das Gesicht meiner Tochter, in das ich blickte, und doch wieder nicht. Sie war mein Kind, aber sie war noch viel mehr als das.
    Erst jetzt konnte ich die Wahrheit aussprechen.
    »Du bist eine der Weisen«, stieß ich mit rauer Stimme aus. »Du gehörst zu jenen Nephilim, die die Fülle der Erkenntnis und der Macht in sich tragen. Darum hat Saraqujal dich entführt. Er hat die anderen Nephilim nicht hergelockt, um ihnen Nathans und Caspars Leichname zu präsentieren. Er wollte dich ihnen zeigen – und auf beiden Seiten die Gier wecken, eine so machtvolle Nephila zu einer der Ihren zu machen. Mit deinen Fähigkeiten könntest du für beide – Wächter wie Schlangensöhne – von unglaublich großem Nutzen sein. Ja«, ich sagte es nun wieder, immer wie- der. »Du bist keine normale Nephila. Du bist eine Weise.«
     
    Auroras Blick war starr auf mich gerichtet – und er bestätigte die Wahrheit eindringlicher, als jedes Wort aus ihrem Mund es hätte tun können. Ja, ich bin ein Weise, sagte ihr Blick.
    Doch dann begann er kaum merklich zu flackern. Unsicherheit schlich sich hinein, als wäre sie nicht sicher, ob das tatsächlich stimmte, vor allem aber, als wüsste sie nicht, wie sie damit umgehen sollte. Die alte, willensstarke Nephila hinter ihrem Antlitz, die Lukas dazu gebracht hatte, das Messer fallen zu lassen und zurückzuweichen, schwand – das Kind Aurora kam zutage, das vertraute, so geliebte Kind. Sie stammelte etwas, was ich nicht verstehen konnte, irgendetwas von Ängsten, Zweifeln und was nun werden sollte. Ich streckte beide Arme nach ihr aus, wollte sie tröstend an mich ziehen, doch da waren plötzlich Schritte hinter uns zu hören. Nathan und Caspar kamen in jenem verrückten Tempo der Nephilim auf uns zugerast, und etwas langsamer folgte ihnen Marian. Er zog Mia an der Hand, sorgsam darauf bedacht, dass er nicht zu schnell ging und sie nicht ins Straucheln geriet.
    Ich konnte kaum sehen, wie sie den verbleibenden Abstand überbrückte, doch schon einen Augenblick später stand Aurora vor Nathan und fiel ihm in die Arme, suchte ganz selbstverständlich Schutz bei ihm und sagte, ohne Zögern, »Papa!« zu ihm. Innig zog er sie an sich, strich ihr über das rotbraune Haar, und kurz wurde ich blind für die ganze Welt, sah nur die beiden, Vater und Tochter, die, die ich am meisten liebte, meine Familie, die endlich ganz zusammengefunden zu haben schien, befreit war von dieser Distanz, diesem leisen Befremden. Das Glücksgefühl hielt nicht lange an. Auch Mia und Marian hatten uns nun erreicht, und ich sah, wie sich das Mädchen ängstlich umblickte, schließlich erbleichte. Sie schluchzte auf, aber sie hatte keine Tränen mehr, um wieder so bitterlich zu weinen wie vorhin. Sie schien sofort zu wissen, was es bedeutete, dass Lukas nicht hier bei uns war, doch sie stellte keine Fragen, klammerte sich nur so fest an Marians Hand, dass ihre Finger sich röteten, und obwohl ihm der feste Druck weh tun musste, wehrte er sich nicht dagegen.
    Ich wollte zu ihr treten, sie irgendwie trösten, bemerkte dann aber, wie Caspar auf Nathan und Aurora starrte, mit leicht bebenden Lippen und angespanntem Körper. Nicht nur Hunger nach Gewalt, uralter Hass und Feindseligkeit spiegelten sich in seinen Zügen, sondern etwas anderes – etwas von jener Sehnsucht von einst, als Aurora auf dem Felsvorsprung einen Namen gerufen hatte und er auf sie zugegangen war. Kurz war ich mir sicher – würde sie ihm irgendetwas befehlen, würde er es bedingungslos tun, würde sich sogar so weit erniedrigen und vor ihr auf den Boden sinken. Doch sie achtete nicht auf ihn – und das erzeugte in ihm jene gefährliche Mischung aus Schmerz und Wut.
    »Die kleine Familie – glücklich vereint«, lästerte er, und das Zischeln in seiner Stimme war bissiger als je zuvor. Sein Blick fiel auf mich, und zu seiner Verbitterung gesellte sich ein

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