Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
Vom Netzwerk:
Platz gefunden, sondern auf den Zentimeter genau seine Position eingenommen zu haben – die Position, die ihm der jeweilige Rang zuwies und welche die Hierarchie offenbarte, von der Caspar mir berichtet hatte. Auf diese Weise bildeten diese Nephilim eine sorgfältig ausgeklügelte Formation.
    Eine Weile konnte ich sie nur anstarren, dann erst bemerkte ich, dass Nathan mich losgelassen hatte, dass er sich – genauso wie Caspar – blitzschnell in diese Formation eingefügt hatte, unauffällig und auch so selbstverständlich, als hätten sie beide, wenn auch auf unterschiedlichen Seiten, immer dazugehört. Ich wusste, Nathan wollte mich und Aurora nicht im Stich lassen – doch in der Gegenwart von so vielen Nephilim musste er einer Macht gehorchen, die stärker war als sein Wille. In Aurora schien die gleiche Macht nicht zu wirken, denn sie blieb bei mir stehen, drückte meine Hand, und plötzlich glaubte ich, sie mit mir sprechen zu hören, wenn auch nicht mit ihrer Stimme, sondern allein kraft ihrer Gedanken.
    Ja, die Männer in den bodenlangen Kutten waren die Alten. Die der Wächter und der Schlangensöhne glichen sich bis aufs Haar, was ihre Statur und ihre Kleidung anbelangte – nur die Augenfarbe unterschied sie, das kräftige Blau der einen, das abgründige Schwarz der anderen. Die etwas größeren unter ihnen schienen die Heerführer zu sein, die, die besonders starr standen, die ordnenden Mächte.
    Bis jetzt hatte es für mich so ausgesehen, als ob sich keiner von ihnen auch nur einen Millimeter bewegen würde – doch wenn das für ihre Körper galt, so nicht für ihre Blicke. Aufmerksam huschten sie über die Massen und schienen stumme Befehle auszusprechen – an all die Nephilim unter ihnen gerichtet, von den Mitläufern bis zu den Fürsten. Erstere glichen einander wie Schatten und erschienen mir als unheimliche, seelenlose Kreaturen, mehr Maschinen als lebendige Wesen. Die Höherrangigen hingegen wirkten menschlich.
    Ich entdeckte Cara in der Menge der Wächter, und ich konnte hören, wie Aurora erleichtert seufzte. Auch mich beschwichtigte Caras Anblick, obwohl sie meinen Blick nicht erwiderte. Schon damals, vor fünf Jahren, hatte sie mir allein mit ihrer gesetzten, ruhigen Art immer das Gefühl gegeben, in ihr eine treue, verlässliche Verbündete zu haben. Jetzt begriff ich, warum wir sie telefonisch nicht mehr hatten erreichen können, und ich konnte auch nachfühlen, dass es für sie eine ungleich größere Überwindung gewesen sein musste hierherzukommen als für alle anderen. Sie gehörte zu der verschwindend kleinen Minderheit der Nephilim, die nach dem 14. Lebensjahr die Seiten gewechselt hatten – den Schlangensöhnen gegenüberzustehen hieß für sie zugleich, der Familie zu begegnen, von der sie sich losgesagt und die ihr den einstigen Verrat nicht verziehen hatte. Einzig die Überzeugung, das Richtige getan zu haben und weiterhin zu tun, hatte ihr wohl den Mut dazu verliehen – und ihre Entschlossenheit gab wiederum mir die Kraft, die Schlangensöhne eingehender zu mustern.
    Die Mitläufer unter ihnen erweckten noch größeren Abscheu wie die Untersten der Wächter, doch je höher sie innerhalb ihrer Hierarchie standen, desto faszinierender war ihre Ausstrahlung. Caspars Präsenz, die mich stets beeindruckt hatte, geriet im Vergleich zu manchen anderen Schlangensöhnen nahezu kümmerlich.
    Einer von ihnen glich ihm fast aufs Haar – zumindest, was seine Gesichtszüge anbelangte: seine Statur hingegen war viel breiter, imposanter.
    Aurora raunte mir seinen Namen zu – und bestätigte, was ich ahnte: Das war Claudius von Kranichstein, Caspars und auch Caras Vater. Von seinen Kindern gehasst und gefürchtet zugleich. Grausam, streng, gnadenlos. Caras vermeintliche Ausgeglichenheit hatte stets Sprünge bekommen, wenn sie von ihm erzählt hatte, wie er nicht nur ihre sanfte Mutter stets unterdrückt hatte, sondern mit größtem Genuss und ohne jedes Maß Menschen abschlachtete und seine Kinder gnadenlos seinem Willen zu unterwerfen suchte. Bei Caspar war es ihm geglückt – bei Cara nicht. Sie hatte seine Lust an Blutbädern nicht geteilt, sich vielmehr geweigert, überhaupt Menschen zu töten – und war bitter dafür bestraft worden.
    So deutlich die Ähnlichkeit von Vater und Sohn war – in Claudius’ Gesicht stand etwas, was ich bei Caspar nie wahrgenommen hatte: etwas Rohes, Gewalttätiges, Zügelloses. Ja, auch Caspar konnte grausam sein. Doch bei Claudius hatte ich das

Weitere Kostenlose Bücher