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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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alle ihr Leben lassen würden.
    Sie wusste, was sie tun musste. Ob sie es auch konnte – jene Pflicht zu erfüllen, mit der sie ihre besonderen Talente zu bezahlen hatte –, das wusste sie nicht. Aber sie würde es versuchen.
    Ihre Mutter hatte recht, sie war eine der Weisen, schon Cara hatte es vor fünf Jahren geahnt, als sie sie über die Hierarchie der Nephilim belehrt hatte. Zu offensichtlich war es damals gewesen, dass ihre Fähigkeiten über die einer normalen Nephila hinausgingen.
    »Aber was bedeutete das?«, hatte Aurora damals gefragt – und Cara hatte mit den Schultern gezuckt. In ihrem Leben sei sie noch nicht vielen Weisen begegnet, jene lebten sehr zurückgezogen, mischten sich nur ein, wenn es unausweichlich war …
    Die Weisen, die auf der Seite der Schlangensöhne standen, seien besonders unberechenbar, gefährlich, zerstörerisch. Die Weisen der Wächter hingegen weihten ihr Leben nicht dem Krieg, sondern versuchten, die verlorene Harmonie wiederherzustellen. Gewiss, an ihrer eigentlichen Bestimmung konnten sie nicht rütteln. Diese war es, die Menschen zu schützen und zu diesem Zweck die Schlangensöhne auszuschalten. Und doch: jede Form von Grausamkeit, von Blutrausch, von Fanatismus war ihnen zutiefst zuwider.
    Aus der Ahnung war für Cara mittlerweile wohl Gewissheit geworden – das konnte Aurora an ihrem Blick lesen. Sie hatte Cara sofort im Kreise der Nephilim erkannt, und wenn diese auch auf jedes Zeichen der Wiedersehensfreude verzichtet hatte – ihr weder zunickte noch zulächelte –, so blieben ihre Augen doch starr auf Aurora gerichtet, und diese erwiderte den Blick, suchte Kraft und Zuversicht daraus zu ziehen.
    Tu es!, sagten ihr Caras grüne Augen.
    Tu es, obwohl du nicht weißt, welche Folgen es haben kann. Tu es, obwohl es dein Leben kosten kann, deine Macht voll und ganz zu entfesseln. Tu es und vertraue darauf, dass alles gut werden wird.
    Du allein entscheidest, ob deine Gabe Segen oder Fluch ist.
    Aber wie?, fragte Aurora stumm. Was soll ich tun?
    Nicht Cara gab ihr die Antwort, sondern etwas anderes. Etwas, das in dem Augenblick in ihr erwachte, als der Kampf endgültig loszubrechen drohte. Aurora wehrte sich nicht dagegen, sondern wurde ganz ruhig und ließ kampflos das Wesen in ihr gewähren. Es erwuchs aus einem winzigen Samen und schien im nächsten Augenblick doch tief verwurzelt, streckte sich nicht nur zum Himmel, sondern nach allen Seiten. Nichts … nichts konnte sie mehr umwerfen, nichts sie kleinmachen. Und in das Klirren der Schwerter hinein rief sie: »Hört auf!«
    Ihr Rufen war nicht lauter als das eines Menschen, doch ihre Stimme schien die Luft zum Vibrieren zu bringen. Eine unsichtbare Welle bahnte sich ihren Weg. Alle wichen vor dieser Welle zurück, die Schwerter sanken zu Boden, die Blicke richteten sich auf sie. Sie nahm sie kaum wahr.
    Nicht du stehst im Mittelpunkt.
    Sie hatte keine Ahnung, welche Stimme da zu ihr sprach, ob die eigene, die von Cara oder die der fremden Macht, nur, dass diese Stimme die Wahrheit sagte.
    Nicht du stehst im Mittelpunkt. Was du bist, ist nichts, worauf du stolz sein kannst. Es ist keine Auszeichnung, es ist eine Bürde, doch wenn du sie trägst, mit Demut, mit Entschlossenheit, mit Pflichtbewusstsein, wird Gutes daraus erstehen. Deine Gaben sind nicht für dich bestimmt, sondern für die Welt.
    Wieder löste sich wie von selbst der Schrei aus ihrer Kehle: »Hört auf!«
    Die Schwerter waren wieder erhoben, doch sie sausten nicht auf den Feind herab. Einige duckten sich, andere starrten sie hingerissen an – Schlangensöhne wie Wächter.
    Aurora atmete tief ein. Ein Feuer brannte in ihr und auf ihr oder, nein, kein Feuer, es waren keinen Flammen, die sie wärmten, sondern das Sonnenlicht – das erste Licht des Tages, die Morgenröte. Langsam hatte sich der glühende Ball an den steilen Aufstieg gemacht und eben die Bergspitze überwunden. Strahlen brachen durch das fahle Licht der Dämmerung, fielen gebündelt auf sie, während die übrigen Nephilim im Halbdunkel verharrten.
    »Hört auf!«, schrie sie ein drittes Mal, und so wie ihr Befehl eine unsichtbare Mauer zwischen den feindlichen Parteien errichtete, schlug nun auch die Morgenröte eine Schneise. Eben noch blass, entfaltete sie sämtliche blendende Kraft. Unwillkürlich ließen die Nephilim ihre Schwerter wieder sinken und hoben stattdessen ihre Hände, um sich vor dem grellen Licht zu schützen. Es war so stark, dass sie nun nicht einmal mehr Aurora

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