Der Fluch der Abendröte. Roman
anstarren konnten.
Und das war gut so.
Nicht du stehst im Mittelpunkt.
Aber was, fragte sie sich im Stillen, was ist dann meine Aufgabe?
Und wieder kam die Antwort wie von selbst: Gewiss, die Welt ist eine Kugel, doch denke sie dir einen Moment lang als Scheibe. Auf dieser Scheibe bewegen sie sich, irren, laufen, wanken, stehen, hasten, kämpfen, tanzen, lieben, hassen, lachen, weinen sie – die Menschen und die Nephilim. Ihre Ordnung ist fragil. Jederzeit kann das Gefüge durcheinandergeraten und in sinnloses Blutvergießen ausarten. Deine Aufgabe ist, das Gleichgewicht zu wahren. Du wirst den steten Kampf nicht beenden, der Kampf gehört zur Natur der Nephilim, aber du wirst dafür sorgen, dass die Welt nicht im Chaos versinkt. Ja, die Welt ist wie eine Scheibe, doch du wandelst nicht darauf, du bist eine ihrer Säulen, und wenn das Gleichgewicht bedroht ist, so musst du die Scheibe ein ganz klein wenig verschieben, so dass alle wieder zurück auf ihre Plätze finden.
Der große Archimedes hat einst gesagt: Gebt mir einen Punkt, und ich werde die Welt aus den Angeln heben.
Und genau das – genau das kannst du tun und musst du tun in solch einem Augenblick wie diesem.
»Hört auf!«
Sie raunte nur noch. Das grelle Licht verschwand wieder hinter den Wolken, und dennoch schien weiterhin etwas Glühendes, Starkes, Mächtiges vor den Augen der Nephilim zu lodern, denn sie hielten ihre Gesichter bedeckt. Für diesen kurzen Augenblick fühlte sie keine Last, keine Pflicht, fühlte nicht das Feuer, das in ihr und aus ihr brannte. Sie fühlte nur tiefste Harmonie und vollendete Stille, berauschender und erfüllender als jede Musik. Der Herzschlag der Welt vereinte sich mit ihrem zu einem Takt, der sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen ließ. Die Erde beschenkte sie mit der Kraft des Lebens. In diesem Augenblick war es ein glückliches Leben.
Es ist alles gut.
Dann schlug die Welle über ihr zusammen. Die Bannkreise, die sie um die beiden Heere gezogen hatte, zerfielen. Sie wurde von sämtlichen dunklen Gefühlen der Nephilim, von ihrem Hass und ihrem Ekel, ihrem Wunsch nach Blut und nach Kampf, ihrer Rachsucht und ihrer Feindseligkeit getroffen. Zuerst fühlte es sich an, als würden Pfeile auf sie niedergehen und ihre Haut zerfetzen. Dann schienen die Pfeile größer zu sein, glichen Felsbrocken, die sämtliche ihrer Knochen brachen. Zuletzt waren sie wie Gift, so als würde sie von tausend Schlangen auf einmal gebissen und ihr Blut auf ewig verseucht.
Sie fühlte kein Glück mehr, fühlte nicht die Kraft des Lebens und das wärmende Rot der Morgensonne. Ihr Innerstes zerbrach, und zurück blieb nichts als Schwärze.
Bevor sie fiel, schien sie zu schweben. Sie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und beide Arme gehoben. Der Eindruck, sie würde größer, immer größer werden, verstärkte sich dadurch, umso mehr, als ihre Haare erst im Morgenlicht leuchteten, dann im Wind wehten. Doch das war nicht alles – für einen Augenblick, gewiss nicht länger als ein Wimpernschlag und darum viel zu kurz, um später beschwören zu können, dass alles nicht doch ein Trugbild gewesen war, hatte ich den Eindruck, dass Auroras Macht nicht nur groß genug war, die Wächter und die Schlangensöhne voneinander fernzuhalten, sondern auch die Schwerkraft zu bezwingen. Sie löste sich vom Boden, schwebte, stieg höher und höher, und dann …
Die Bewegung, die folgte, war umso abrupter. Sie fiel nicht einfach zu Boden, sondern schien wie von unsichtbarer Kraft zurückgerissen zu werden. Das feuchte Gras dämpfte das Geräusch, als ihr Körper auf den Boden aufprallte, aber dennoch war die unglaubliche Wucht zu erkennen. Sie überschlug sich mehrere Male, bis sie endlich liegen blieb, merkwürdig verdreht und zugleich völlig starr. Ihre Haut war nicht einfach nur weiß, sondern bläulich, und aus ihrem Mund trat Schaum. Selbst aus der Entfernung konnte ich sehen, wie sich ihre Augen verdrehten.
Ein verwirrtes Raunen ging durch die Menge. Die Nephilim starrten sich an, als erwachten sie aus einem langen Traum, als wüssten sie nicht recht, wo sie waren, was sie hierhergetrieben hatte, was sie nun tun sollten. Ich achtete nicht länger auf sie. Bis jetzt hatte ich auf dem Boden gehockt, nun sprang ich auf, stürzte auf Aurora zu, auf mein Kind – ja, ganz gleich, was geschehen war, ganz gleich, was sie getan hatte, sie war mein Kind.
Nathan und Cara kamen mir zuvor. Blitzschnell wie immer waren sie
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