Der Fluch der Abendröte. Roman
Schlafen. Alles, was geschehen war, zog wie ein Film an mir vorbei, und ich konnte ihn ganz ruhig, nüchtern betrachten, ohne ihn mit mir in Verbindung zu bringen.
Auroras durchdringende blaue Augen … Nathan, der vergebens versuchte, Cara zu erreichen … unsere Liebesnacht … Marians Großvater … seine Worte … Marian … der mitten im Gewitter zu meinem Haus gelaufen war …
E -Dur, G -Dur, H -Dur.
Plötzlich schreckte ich hoch. In meinem Mund schmeckte es bitter, meine Kehle war wie ausgetrocknet, mein Nacken schmerzte, weil mein Kopf zur Seite gekippt war. Im wachen Zustand war es mir nicht aufgefallen – aber dieser Dämmerschlaf hatte die jähe Erkenntnis gebracht:
E , G , H hatte Marian gespielt
Vielleicht aber auch G . E . H .
Geh.
Geh weg.
Flieh, solange du kannst.
Er wollte, dass ich Hallstatt verließ – und seine Angst um mich war so groß, dass er trotz des Gewitters hierhergekommen war. Vielleicht wusste er, was auch seine Großeltern wussten – und was in Susanna die große Furcht vor meiner Villa ausgelöst hatte und in Samuel den Wunsch, mir irgendetwas zu sagen, mich zu warnen.
Geh!
Aber wie sollte ich gehen, ohne zu wissen, wo Nathan war? Ich musste doch hier warten, bis er wieder zurückkam!
Eben noch hatte ich meine Arme um die Knie geschlungen, nun erhob ich mich langsam. Meine Füße waren eingeschlafen. Sie kribbelten, als ich aufstand, langsam hinauf ins Schlafzimmer stieg. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Nathans Verschwinden Unruhe, Verwirrung, Beklemmung ausgelöst, nun überkam mich tiefe Traurigkeit.
Ich war allein. Verlassen. Schutzlos einer Bedrohung ausgeliefert, vor der der kleine Marian mich schützen wollte. Hilflos musste ich all die Ängste um Aurora ertragen.
Ich schüttelte mich, als könnte ich damit diese Gefühle loswerden, doch es war umso schwerer, die Trauer zu bezähmen, als ich das Licht anmachte, das leere Bett sah – in dem ich noch vor wenigen Tagen glücklich und friedlich an Nathans Seite geschlafen hatte – und seinen Cellokasten.
Bis auf ein paar wenige Kleidungsstücke hatte er sonst kaum Spuren in diesem Haus hinterlassen, doch das Cello – ob er es nun spielte oder nicht – war das sichtbare Zeichen, dass er hier lebte. Ich seufzte wehmütig, Tränen stiegen mir in die Augen.
»Ach, Nathan …«, murmelte ich.
Ich beugte mich zu dem Cellokasten, strich zögerlich darüber. Auch wenn er nur ein Instrument barg – für mich war es weit mehr als das, ein lebendiges Wesen beinahe, ein gefangenes, zum Schweigen gebrachtes Wesen, denn er spielte ja nicht mehr darauf, entfachte nicht mehr diese wunderbaren Töne, diese überirdische Musik. Bis jetzt hatte ich immer zu verstehen geglaubt, warum er dieses Opfer brachte, bringen musste, nun ging mir plötzlich durch den Sinn: Wie haben wir nur glauben können, glücklich sein zu können, solange er nicht spielt!
Ich öffnete den Kasten vorsichtig, streckte meine Finger aus, um sanft über die Saiten zu streichen und ihnen ein paar Klänge zu entlocken, auch wenn es dissonante wären.
Doch bevor ich die Saiten berührte, sah ich nicht weit vom Kasten entfernt einen Zettel auf dem Boden liegen. Ein Luftzug musste ihn erfasst und dorthin geweht haben – vielleicht vom Bett, wo er ursprünglich gelegen hatte, vielleicht von der Kommode. Ich griff danach, faltete ihn auseinander und erkannte sofort Nathans spitze, altmodische Handschrift.
Mit der gleichen Schrift hatte er mir damals in Salzburg den Abschiedsbrief geschrieben – äußerst knapp gehalten und in einem kalten, distanzierten Ton.
Auch dieses Schreiben bestand nur aus wenigen Sätzen. Vier waren es genaugenommen.
Ich muss fort. Es ist zu deinem … zu eurem Besten. Verlass so schnell wie möglich Hallstatt! Leb wohl!
Ich starrte auf den Zettel, bis die Schrift vor meinen Augen verschwamm, dann entglitt er meinen Händen. Er segelte langsam auf die Saiten und brachte diese zum Vibrieren. Die Berührung war nicht stark genug, um einen echten Ton hervorzubringen, und doch war mir, als flüstere mir das Cello etwas zu, als wiederhole es den Befehl seines Besitzers.
Verlass Hallstatt!
GEH !
Ich fuhr so heftig zurück, dass ich mir den Kopf am Bettpfosten anschlug. Ein gleißendes Licht explodierte in meinem Kopf, ein spitzer Schmerz folgte ihm. Ich spürte nicht mehr, wie er nachließ. Dann war da nur noch Dunkelheit. Oder nein, keine Dunkelheit. Ich fühlte noch, wie ich auf den Boden sank. Und war wieder in einem
Weitere Kostenlose Bücher