Der Fluch der Abendröte. Roman
Er ist mitten im Gewitter zu uns hochgelaufen. Er will mir irgendetwas sagen, aber ich weiß nicht, was. Vielleicht hat es damit zu tun, dass …«
Ich brach ab, lauschte verwirrt. Erst blieb es wieder eine gefühlte Ewigkeit lang still, dann folgte erneut das Keuchen und schließlich ein paar Worte, abgehackt und wirr. »… können Sie ihn bringen … geht jetzt nicht … was Furchtbares passiert … kann nicht hier weg …«
Ich presste den Hörer dichter ans Ohr, aber die Worte wurden immer undeutlicher. Offenbar wollte sie von mir, dass ich Marian nach Hause brachte – und sie wartete meine Zustimmung nicht ab. Es knackste wieder in der Leitung, dann ertönte das Tuten. Sie hatte einfach aufgelegt.
Eine Weile hielt ich verwirrt den Telefonhörer in der Hand, ließ ihn dann sinken und drehte mich zu den Kindern um. Marian krümmte sich, als wollte er sich so klein wie möglich machen. Aurora starrte mich weiterhin verwirrt an.
»Ich … ich soll dich nach Hause bringen«, stammelte ich. Meine Stimme klang ebenso krächzend und hoch wie die von Frau Orqual. Ich konnte es nicht fassen – weder dass sie mich so kurz abgefertigt hatte, noch dass sie den ansonsten so behüteten Enkelsohn nicht selber abholte. Allerdings wollte ich mir nicht anmerken lassen, wie verunsichert ich war, um Marian und Aurora nicht noch mehr zu verstören.
Ich trat zu ihm, kniete mich zu ihm hin und nahm ihm den Pulli aus der Hand. »Komm, ich helfe dir beim Anziehen. Und dann fahren wir los.«
Marian wehrte sich nicht, als ich ihm den Pulli überzog. Seine Lippen schienen danach immer noch bläulich, aber seine Schultern bebten nicht mehr so heftig.
»Es ist gut«, murmelte ich, obwohl ich nicht daran glaubte. »Es ist doch alles gut.«
Aurora bestand darauf, zu Hause zu warten, während ich Marian zu den Orquals brachte. Ich rang lange mit mir, ob ich ihrem entschieden vorgebrachten Wunsch nachgeben oder darauf bestehen sollte, dass sie uns begleitete. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, sie ganz alleine zurückzulassen – so spät am Abend und nach Nathans rätselhaftem Verschwinden. Andererseits war ich immer noch von Susannas Verhalten irritiert und hatte Angst vor dem, was mich womöglich bei den Orquals erwartete. Was immer es war – ich wollte Aurora nicht damit belasten und sie in Gefahr bringen.
Als sie bekräftigte, mindestens zweimal hinter mir zuzusperren und ich obendrein noch einmal von Raum zu Raum gegangen war, um jeden Fensterladen zu schließen, konnte ich halbwegs beruhigt mit Marian alleine losfahren.
Die kurze Strecke bis zum Auto genügte, um klatschnass zu werden. Ich schaltete die Heizung ein, aber bis es im Auto richtig warm wurde, hatten wir Lahn schon erreicht. Wieder war es nur ein kurzer Weg bis zum Haus – und wieder durchnässte uns der Regen. Er fiel zwar nicht mehr in dicken, schweren Tropfen, sondern in hauchdünnen Fäden, doch Windböen peitschten ihn förmlich in unsere Gesichter. Marian begann wieder zu zittern, aber ich war mir nicht sicher, ob nur vor Kälte oder auch vor Angst.
Ich läutete, einmal, zweimal. Nichts geschah. Ich ging zu einem der Fenster, presste mein Gesicht daran – ähnlich wie vorhin Marian an unserer Balkontür – und versuchte, etwas zu erkennen. Doch hinter dem Fenster war es finster.
Ich läutete ein drittes Mal, meine Finger waren schon ganz starr vor Kälte, und endlich hörte ich Schritte näher kommen. Susanna Orqual riss die Tür auf, starrte uns jedoch an, als wären wir Fremde, und machte auf dem Absatz kehrt, um wieder hineinzulaufen. Marian machte keine Anstalten, das Haus zu betreten, doch als ich ihn an der Hand nahm und ihn mit mir zog, folgte er mir.
»Frau Orqual?«
Ich strich die nassen Haare zurück, die in meinem Gesicht klebten, und folgte ihr ins Innere des Hauses.
Susanna stand stocksteif vor dem Zimmer, das als Bibliothek diente, nicht länger hektisch, sondern wie erstarrt. Erst jetzt sah ich, dass sie nicht nur blass wie immer war, sondern sich ihre Augen gerötet hatten – als hätte sie geweint.
»Was ist denn los?«, fragte ich.
Schweigen.
»Danke«, murmelte sie kaum hörbar, als ich mit keiner Antwort mehr rechnete, »danke, dass Sie Marian nach Hause gebracht haben.«
»Was ist denn los?«, fragte ich wieder, doch erneut blieb sie mir die Antwort schuldig und wandte sich von mir ab.
Ich folgte ihrem starren Blick. Die Tür zur Bibliothek war geöffnet, und hinter der Bibliothek befand sich Samuel Orquals
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