Der Fluch der Abendröte. Roman
tröstenden, nette Worte in den Sinn kamen, ertönte plötzlich ein Raunen. Es war so leise, dass ich kurz dachte, ich hätte mich geirrt und der Laut stamme vom Knirschen der Holzdielen. Doch kaum war das Raunen verstummt, begann es von neuem. Samuel Orqual bewegte seine Lippen kaum, aber sein Blick wurde immer verzweifelter und flehentlicher, und sein Gesicht war gerötet.
Ohne Zweifel: Er wollte mir etwas sagen.
»Es tut mir leid«, setzte ich hilflos an, »aber ich verstehe nicht …«
Wieder folgte diese Geste, als würde er die Hand zur Faust ballen. Ich rückte noch näher an sein Gesicht heran. Aus der Flut dieser undeutlichen Worte glaubte ich plötzlich zwei zu verstehen.
»Sie … holen …«
»Herr Orqual, ich …«
»… holen …«, sagte er. Und immer wieder: »Holen!«
Schließlich verstummte er, seufzte ein letztes Mal und sackte dann in sich zusammen. Seine Augen waren zusammengekniffen, sein Gesicht nicht länger gerötet, sondern aschfahl. Ich hatte Angst, ihn zu überanstrengen, wenn ich länger blieb, und erhob mich rasch.
»Es tut mir leid«, sagte ich wieder. »Ich hoffe, es geht Ihnen bald besser.«
Als ich zurück in den Flur trat, stellte ich fest, dass der Arzt in der Zwischenzeit das Haus verlassen hatte, Marian hingegen wieder nach unten gekommen war. Er stand auf der untersten Treppe und umklammerte das Geländer, während Susanna auf ihn einredete.
»Du darfst nie wieder in dieses Haus gehen. Hörst du? Nie wieder!«
Obwohl sie nur flüsterte, klang ihre Stimme nicht nur eindringlich, sondern ungewohnt streng. »Du darfst …«, setzte sie wieder an, aber brach plötzlich ab. Offen- bar hatte sie mich gehört, denn sie fuhr herum und setz- te ein freundliches, aber irgendwie falsches Lächeln auf.
»Marian hatte große Angst um seinen Großvater – deswegen war er ganz durcheinander. Genau wie ich«, erklärte sie rasch mit einer Stimme, die ebenso aufgesetzt und unecht wirkte wie das Lächeln. »Danke, dass Sie ihn zurückgebracht haben, das war wirklich unglaublich nett von Ihnen. Und nun ist das Gewitter ja auch vorbei.«
Ich nickte verwirrt und verabschiedete mich rasch. Marian zog wieder seinen Kopf ein.
Als ich zurück zum Auto ging, war der Himmel nicht mehr schwarz, sondern von einem dunklen Grau. Kein Donnergrollen war mehr zu hören, nur das Rauschen der Bäume.
Wie betäubt fuhr ich den Berg hinauf. Wasser spritzte hoch, als die Reifen tiefe Pfützen durchpflügten.
Warum war Marian zu mir gekommen, um immer wieder diese Tonleiter zu spielen? Was hatte mir Samuel Orqual sagen wollen, als er immer wieder das Wort »Holen« aussprach? Und warum hatte Susanna Marian verboten, noch einmal dieses Haus – offenbar war damit unsere Villa gemeint – zu betreten? Es hatte so geklungen, als ginge von dort Gefahr aus. Große Gefahr.
Als ich aus dem Auto stieg, trat ich in eine Pfütze. Das kalte Wasser spritzte hoch bis zu meinen Knien, doch ich bemerkte es kaum, hatte nur Augen für Aurora, die mich am Hauseingang erwartete.
»Ist … ist etwas passiert? Geht es dir gut? Hat jemand angerufen? Ist Nathan wieder zurück?«, überschüttete ich sie mit Fragen.
Sie schüttelte nur den Kopf und erklärte, dass alles in Ordnung sei. Sie wollte zwar wissen, was bei den Orquals passiert war, aber gab sich mit meiner Erklärung zufrieden, dass Samuel einen Schlaganfall erlitten habe. Danach sagte sie nur, sie sei müde und würde ins Bett gehen.
Ich wollte auf sie zugehen, sie an mich ziehen und umarmen, doch wie vorher, als ich das Haus betreten hatte, wich sie zurück. »Du hast nasse Schuhe«, stellte sie fest – und klang so streng, als wäre sie die Mutter und ich das Kind, dem man zu sagen hatte, was zu tun war.
Ich bückte mich, zog meine Schuhe aus, und als ich mich wieder aufrichtete, hatte sie schon die Tür zu ihrem Kinderzimmer geschlossen.
Später, es war längst nach Mitternacht, blieb ich noch lange im Wohnzimmer sitzen. Immer leiser wurde das Rauschen des Regens – und beruhigte meinen aufgewühlten Geist ein wenig. Anstatt mir weiter den Kopf über Marians Verhalten, Auroras seltsame Distanz und Nathans Verschwinden zu zerbrechen, fühlte ich mich ganz leer, als hätte sich mit dem Gewitter auch meine Anspannung entladen.
Ich hatte das Licht ausgemacht, saß im Dunkeln und starrte vor mich hin. Ich konnte nicht schlafen oder dachte vielmehr, ich könnte es nicht. In Wahrheit versank ich wohl in eine Art Dämmerzustand zwischen Wachen und
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