Der Fluch der Abendröte. Roman
Krankenzimmer. Ich sah seinen Rollstuhl dort stehen, konnte jedoch keinen Blick von dem alten Mann erhaschen, da sich jemand tief über ihn beugte und offenbar seinen Blutdruck maß.
»Was ist mit Ihrem Mann?«, fragte ich entsetzt – und begann zu ahnen, was die Ursache für ihr merkwürdiges Verhalten war.
Ihre Mundwinkel zuckten. »Vorhin hat er plötzlich zu zittern begonnen … sein ganzer Körper hat gezuckt … ich dachte, es wäre ein weiterer Schlaganfall.«
Hinter mir hörte ich ein unterdrücktes Schluchzen. Marian war zu Susanna getreten, umklammerte nun ihre Hand, und diesmal war sie nicht länger blind für seine Nöte, sondern zog ihn an sich und fuhr ihm durchs regennasse Haar.
»O mein Gott, Marian!«, stieß sie aus, und blickte plötzlich so verwirrt, als erwache sie aus einem dunklen Traum. »Ich … ich hatte solche Angst um meinen Mann … Da habe ich gar nicht auf ihn geachtet. Es muss schrecklich für ihn gewesen sein … aber … aber … aber ich war wie weggetreten …«
Sie biss sich auf die Lippen, und wieder stiegen Tränen in ihre Augen.
Ich legte meine Hand auf ihre Schulter. »Machen Sie sich keine Vorwürfe! Sie waren in einer Art Schockzustand, und …«
Ich brach ab, weil ich nicht wusste, wie ich sie trösten sollte. Dazu war ich selber viel zu aufgewühlt. Ich verstand jetzt zwar, warum sie so konfus und Marian so verängstigt war – aber nicht, warum er in seiner Not ausgerechnet zu mir gelaufen war, und noch weniger, warum er die Tonleiter gespielt hatte.
Aber es schien der falsche Zeitpunkt, danach zu fragen. »Wie geht es Ihrem Mann jetzt?«, wollte ich stattdessen wissen.
Susanna atmete tief durch. »Der Arzt meinte, es sei nur ein Schwächeanfall. Er will ihn nicht ins Krankenhaus einweisen.«
Obwohl ihre Worte eigentlich bedeuteten, dass alles nicht so schlimm war, wie ursprünglich gedacht, klang sie so hoffnungslos, als würde sie Samuels Tod verkünden. Noch mehr verwirrte mich, dass sie sich nun zwar wieder von Marian löste, aber weiterhin im Flur stehen blieb, anstatt an die Seite ihres Mannes zu eilen.
»Frau Orqual …«, setzte ich an.
Als sie Marian wieder losgelassen hatte, warf er mir einen flehentlichen Blick zu. Ich ging in die Hocke.
»Hast du gehört, Marian? Es ist alles gut«, tröstete ich ihn, »deinem Großvater geht es wieder besser. Es war nicht so schlimm wie gedacht.«
Er nickte, aber wirkte nicht erleichtert, sondern immer noch verzweifelt. Dann drehte er sich wortlos um und lief die Treppe hoch in sein Zimmer.
Susanna Orqual schien damit zu ringen, ob sie ihm folgen sollte, doch ehe sie sich entschieden hatte, kam der Arzt aus dem Krankenzimmer und gab ihr ein Zeichen, dass er noch ein paar Worte mit ihr wechseln wollte. Sie ließ mich wortlos stehen, als sie ihm in die Küche folgte, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Alles in mir drängte danach, so schnell wie möglich nach Hause zu Aurora zu fahren – und doch brachte ich es nicht über mich, einfach zu gehen. Ich hätte das Gefühl gehabt, Marian im Stich zu lassen, obwohl der doch in seinem Zimmer verschwunden war und Susanna Orqual zwar immer noch kopflos wirkte, aber nicht mehr ganz so panisch.
Während ich noch verunsichert im Flur stand, fiel mein Blick erstmals auf Samuel Orqual. Ich hatte erwartet, dass er zusammengesunken wie immer in seinem Rollstuhl sitzen würde, doch sein Rücken war durchgestreckt und seine Augen waren starr auf mich gerichtet. Der Ausdruck seiner Augen erinnerte mich ein wenig an den von Marian – etwas Flehentliches, Hilfloses stand darin, das ich nicht deuten konnte.
Ich weiß nicht genau, was mich trieb, ob Sorge, Mitleid oder Verwirrung, aber ich ging rasch zu ihm. Kurz schien sein Blick aufzuleuchten, doch sobald ich die Schwelle zu seinem Krankenzimmer überschritten hatte, erschien plötzlich Panik darin – die gleiche Panik wie damals, als er die dunkle Gestalt in Caspar von Kranichsteins Anwesen gesehen hatte.
Hatte er etwa Angst vor mir?
Ich wollte schon zurückweichen, umso mehr, als er die Hand zur Faust ballte – zumindest sah es im ersten Augenblick so aus. Erst langsam begriff ich, dass dies weniger eine drohende Geste war als ein Versuch, mich noch näher an ihn heranzulocken. Es missriet, weil er seine Finger nur verkrampfen, nicht spreizen konnte.
Zögernd trat ich zum Rollstuhl und beugte mich zu ihm. Ich wusste nicht, wie ich ihm helfen konnte und was ich sagen sollte, doch noch ehe mir irgendwelche
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