Der Fluch der Abendröte. Roman
Brief auf dem Cello liegen. Ich griff danach, las ihn wieder, kurz der wahnwitzigen Hoffnung verfallen, ich hätte die wenigen Worte vorhin nur falsch verstanden.
Verlass Hallstatt!
Ich zerknüllte den Brief in meinen Händen, die spitzen Ränder des Papiers stachen in meinen Daumenballen.
Was passierte nur mit mir? Was passierte mit Aurora? Und vor allem: Was war mit Nathan passiert?
Ich faltete den Brief wieder auseinander, las wieder und wieder seine gestochene Schrift.
Verlass Hallstatt!
Meine Verzweiflung und Hilflosigkeit wichen dem Ärger. Wie konnte er so etwas von mir verlangen, gerade jetzt, wie konnte er gehen, einfach so, ohne eine andere Erklärung als dieses lächerliche Fetzchen Papier … lächerlich wie damals der Brief, den er mir geschrieben hatte, als ich mit Aurora schwanger gewesen war! Wie konnte er mir das ein zweites Mal antun, nachdem wir uns doch versprochen hatten, künftig immer ehrlich zueinander zu sein!
Ich zog meine Knie ganz nah an meinen Körper, senkte meinen Kopf darauf, blieb einfach sitzen, nicht länger nur verärgert, sondern auch trotzig – als könnte ich, indem ich hier einfach hocken blieb, eine Erklärung erzwingen. Ja, wenn ich mich Nathans Aufforderung widersetzte, dann musste er doch zurückkommen, wo immer er auch war! Dann musste er mir sagen, was hier vor sich ging!
Nathan.
Nathan!
Nathan …
Nathan?
Immer wieder sprach ich seinen Namen aus, verzweifelt, hoffnungsvoll, sehnsüchtig, tieftraurig, sagte ihn und wusste doch: Er würde mich nicht hören, er würde mich nicht sehen, er war gegangen – vielleicht hatte er gute Gründe, vielleicht war es unumgänglich gewesen, aber es kam aufs Gleiche heraus. Er war gegangen, ohne sich mir zu erklären.
Irgendwann stand ich auf, begann unruhig auf und ab zu gehen. Das Schlafzimmer wurde mir zu klein, ich lief ins Wohnzimmer, drehte dort meine Runden, sah einmal kurz nach Aurora, die tief und fest in ihrem Bett schlief. Draußen regnete es noch. Ich ließ mich auf die Couch fallen, starrte in die Dunkelheit.
Warum, Nathan, warum nur?
Irgendwann im Morgengrauen musste ich eingenickt sein. Diesmal verfolgten mich keine dunklen Träume, sondern Nathans Worte. Verlass Hallstatt … Verlass Hallstatt!
Als ich erwachte, rätselte ich nicht länger, was sie bedeuteten. Dass er mir nur diese Nachricht hinterlassen und nicht selbst mit mir gesprochen hatte, ließ mich an seiner Vertrauenswürdigkeit zweifeln, an seiner Offenheit, aber nicht an der Tatsache, dass Aurora und ich in Gefahr waren.
Meine Haare klebten mir im Gesicht, doch anstatt mich zu frisieren, griff ich nach dem Telefonhörer. Noch im Halbschlaf war mir die Idee gekommen, an wen ich mich wenden konnte. Viermal läutete es, dann hob am anderen Ende der Leitung jemand ab.
»Hallo?«, kam es bestimmt.
Ich seufzte erleichtert – zum einen, weil ich sie erreichte, zum anderen, weil die energische Stimme mir sagte, dass sie schon wach war. Gar nicht auszudenken, welche Flut an Vorwürfen über mich herabgeregnet wären, wenn ich sie geweckt hätte!
»Guten Morgen!«, sagte ich schnell. »Ich bin’s, Sophie …«
Am anderen Ende der Leitung blieb es kurz stumm. »Wer spricht da?«, fragte Nele.
Ich dachte, die Leitung wäre kurz unterbrochen gewesen, und wiederholte darum: »Ich bin’s, Sophie.«
»Ich habe schon verstanden«, kam es gedehnt und ziemlich unfreundlich. »Nur kenne ich keine Sophie. Das heißt, wenn ich mich mühsam zu erinnern versuche, dann überkommt mich die vage Ahnung, dass ich doch mal eine gekannt habe und dass sie meine beste Freundin gewesen ist. Aber das ist lange her … gefühlte Ewigkeiten!«
Ich seufzte. »Nele, es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, wirklich, es ist unverzeihlich, aber ich brauche deine Hilfe.«
Wieder blieb es am anderen Ende der Leitung eine Weile still. Dann kam, halb triumphierend, halb ärgerlich: »Wusst ich’s doch! Seit Jahren meldest du dich immer nur dann, wenn du was von mir brauchst.«
»Das stimmt nicht«, protestierte ich schwach. »Aurora würde dich gerne sehen, und …«
»Was willst du?«, unterbrach sie mich ungehalten.
»Kann ich mit Aurora zu dir kommen? Nur für ein paar Tage?«
Diesmal antwortete sie nur mit einem Stöhnen.
Ich wusste, Nele war zu gutmütig, um mir diese Bitte abzuschlagen. Ganz gleich, was sie da eben zu mir gesagt hatte – es gab nur wenige Menschen, die sie je so nah an sich herangelassen hatte wie mich. Und auch
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