Der Fluch der Abendröte. Roman
das Mädchen weiß, dass dieses Wesen ein Nephil ist. Und sie weiß auch wieder, was sie selbst ist.
Damals, im Alter von sieben Jahren, hatte ein schwerer Sturz alle Erinnerungen an ihre Nephila-Existenz ausgelöscht. Nun brachte ein Schlag auf den Kopf und das Entsetzen über die Entführung diese Erinnerungen, die schon in den letzten Tagen langsam erwacht waren, endgültig zurück – und sie war ganz allein mit ihnen und dem Wissen, welches Erbe in ihr schlummerte. Weder Nathan noch Cara konnten ihr zur Seite stehen, sie war einem fremden Nephil ausgeliefert, vielleicht einem Schlangensohn, der – so lange vor ihrem 14. Lebensjahr – die Möglichkeit haben und nutzen würde, sie auf seine Seite zu ziehen, sie ganz und gar zu einer der Awwim zu machen.
Ächzend versuchte sich Lukas aufzurichten, doch ich hielt ihn zurück.
»Wir müssen einen Krankenwagen rufen«, sagte ich, »deine Wunde muss versorgt werden …«
Mit zitternden Händen kramte ich nach meinem Handy.
»Nein!«, rief er gequält. »Ein Arzt würde wissen wollen, was passiert ist – und dann … und dann …«
Dann würde er die Polizei rufen. Die Polizei, die nichts gegen diese Art von Entführern würde unternehmen können. Selbst wenn es Menschen gewesen wären – wie Lukas ja glaubte –, wäre es ratsam, vorerst nichts zu tun, sondern auf ihre Lösegeldforderungen zu warten.
»Keine Polizei!«, murmelte Lukas.
Ich nickte schwach, sank zurück auf die Stufen, hilflos und ausgeliefert.
Aurora … sie haben Aurora.
Die Frau in meinem Traum war von Anfang an Aurora gewesen.
V.
Nicht nur der Mann, der mich entführt hat, ist ein Unsterblicher. Ich selbst bin es auch.
Sie schrie diese Wahrheit nicht aus sich heraus – die Wahrheit schrie aus ihr, oder vielleicht nicht die Wahrheit, sondern diese fremde Macht in ihr, verstörend und gewaltig. Sie riss sie mit sich wie eine dunkle Flut, zuerst zu Boden, dann in das Reich ihrer Erinnerungen – Erinnerungen an die Zeit vor fünf Jahren. Ihr Gedächtnis war lange von einer grauen, riesigen Wand umgeben – nun brach diese ein. Gesteinsbrocken fielen herab. Da gab es kein vorsichtiges Herantasten, kein zaghaftes Annähern. Die Wahrheit lag nackt vor ihr.
Ich bin eine Nephila.
Ich bin eine Nephila!
Ich bin eine Nephila …
Sie hörte den Satz immer wieder, in sämtlichen Nuancen und Stimmlagen, raunend und flüsternd, lachend, schreiend, traurig, stolz, verzweifelt, siegessicher. Sagte sie es selbst, oder sagte es die Macht, die in ihr wütete? Die sie nicht nur zu Boden geworfen und ihre Erinnerungen geweckt hatte, sondern die ihre Schmerzen vertrieb und ihre Wunde heilte? Ja, das wusste sie genauso, wie sie wusste, wer sie war. Vom Schlag auf ihren Hinterkopf war keine Schwellung geblieben, kein Blut. Sie war wieder heil – und doch nicht. Denn die Macht begnügte sich nicht damit, die Spuren der Verletzung auszumerzen. Sie wütete weiterhin in ihr, ließ ihren Körper erst erstarren und dann verkrampfen. Ihre Zähne klapperten, ihre Augen überdrehten ins Weiße. Nichts sah sie – und zugleich alles.
Ich bin Aurora.
Aurora Grigori.
Ich bin eine Nephila.
Obwohl sie wusste, dass die Macht aus ihr selbst kam, fühlte sie sich doch wie ein fremdes Wesen an, das sie festhielt, sie schüttelte, sie verschlang; ein riesiges Tier war diese Macht – hungrig und gierig. Nur einen winzigen Funken ihrer Seele spuckte sie wieder aus, den letzten Rest, der denken, der fühlen konnte, der sich zitternd und bebend fragte: Was geschieht nur mit mir?
Ich bin eine Nephila. Genauso wie mein Vater Nathanael. Ich wurde von einer Auserwählten geboren, und als ich sieben Jahre alt geworden bin, ist meine wahre Natur erstmals zum Leben erwacht. Manche Nephilim erringen ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten erst im Laufe ihres langen Lebens, indem sie ihresgleichen und Menschen töten, anderen sind solche Fähigkeiten – das Erbe ihrer Vorfahren – schon von Geburt an mitgegeben.
Die Erinnerungen peitschten förmlich durch ihren geschwächten Geist, schienen Kerben zu hinterlassen, tief und schmerzhaft – Erinnerungen daran, wie sie seinerzeit jenen Unfall erlitten hatte, vom Berg gestürzt, auf ihren Kopf geprallt und ihr schwarz vor Augen geworden war. Jetzt war es nicht schwarz, jetzt schien ein grelles Licht alles zu beleuchten. Die damaligen Ereignisse, und die Gesichter von Cara … von Caspar … von Josephine.
Cara hatte ihr beigebracht, wie sie den Kräften, die in ihr
Weitere Kostenlose Bücher