Der Fluch der Abendröte. Roman
vielleicht hatte der Makler, der das Anwesen verkaufen sollte, jemanden beauftragt, es gründlich zu putzen und auch zu lüften. Das würde auch das gekippte Fenster erklären – wenn auch nicht den Bildband über den Gletscher. Vielleicht war es auch nicht der Makler gewesen, sondern der ominöse neue Besitzer, der in diesen Tagen eigentlich einziehen sollte. Und vielleicht …
Meine Gedanken stockten. So hastig wie ich das Haus verlassen hatte, war ich auch den Berg hinuntergeeilt. Kaum war ich an der hohen, verwilderten Hecke vorbeigekommen, konnte ich wieder – wie vorhin vom Fenster aus – Lukas’ Wagen sehen. Aus dieser Perspektive erkannte ich, dass er ihn nicht direkt vor meinem Auto geparkt hatte, wie es zum Abschleppen notwendig gewesen wäre, sondern mitten auf der Forststraße, die nun völlig blockiert war. Die Tür auf der Fahrerseite stand sperrangelweit offen, doch weit und breit war niemand zu sehen, vor allem aber waren keine Stimmen zu hören.
»Aurora! Mia!«
Ich beschleunigte mein Tempo, begann regelrecht zu rennen und war völlig außer Atem, als ich endlich das Auto erreicht hatte.
»Lukas!«
Totenstille empfing mich, unheimlich und quälend. Ich starrte auf das Auto, und erst, als ich mich langsam umdrehte, drang ein Laut durch die Stille.
»Sophie …«
Die erstickte Stimme erinnerte ein wenig an das Raunen von vorhin, nur dass das irgendwie verführerisch und lockend geklungen hatte, diese Stimme nun aber einfach nur gequält.
Mir stockte der Atem. Auf den Stufen vor dem Eingang meiner Villa war Lukas zusammengebrochen. Seine Beine hatte er gerade von sich gestreckt, sein Kopf lag auf der obersten Stufe. Ein tiefer Schnitt ging quer über seine Stirn, Blut floss daraus. Es bedeckte nicht nur sein halbes Gesicht, sondern war vom Kinn auf seine Brust getropft und hatte auf seinem karierten Hemd einen großen, dunklen Fleck hinterlassen.
»Lukas!«
Als ich zu ihm stürzte, waren seine Augen zusammengekniffen und wie in tiefen Höhlen versunken. Ich war mir sicher, dass er es nur mühsam bis hierher geschafft, dann aber sofort das Bewusstsein verloren hatte – angesichts dieser riesigen, klaffenden Wunde auf seiner Stirn war das kein Wunder. Doch als ich vorsichtig sein Gesicht in die Hände nahm, ertönte wieder ein Stöhnen. »Sophie …«
Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er stützte sich auf seine Hände, versuchte seinen Kopf zu heben, nuschelte etwas, was ich kaum verstand.
»Versucht … mich zu wehren … zwecklos …«
»Gegen wen? Gegen wen wolltest du dich wehren?«, fragte ich atemlos – und ahnte es.
Er konnte nicht antworten, sondern hob nur die Hände und spreizte seine Finger. Offenbar wollte er mir damit zeigen, dass es sechs gewesen waren.
Sechs Männer.
Nein, sechs Wesen.
Kreaturen.
Nephilim.
Dessen war ich mir sicher.
Lukas atmete tief durch. Ein Zittern ging durch seinen Körper, doch die sichtlich großen Schmerzen hielten ihn nicht davon ab, mehr zu berichten: Von den zwei Männern, die plötzlich mitten auf der Straße gestanden und sein Auto aufgehalten hätten. Von den anderen, die auch auf das Auto zugestürmt wären. Zunächst hätte er sich nichts dabei gedacht, wäre ausgestiegen, hätte sie gefragt, ob sie Hilfe bräuchten. Dann sei alles sehr schnell gegangen …
Mit jedem Wort, das er sagte, floss noch mehr Blut aus seiner Wunde. An den Rändern begann es sich bereits zu verkrusten.
»Habe versucht … es zu verhindern …«, kam es stockend.
»Die Mädchen …«, setzte ich an und brachte den Satz dann selbst zu Ende: »Sie haben die Mädchen entführt.«
Immer noch gab es so vieles, was ich nicht begriff, was ich nicht wusste. Und doch – manches ergab jetzt einen Sinn: Dass Marian mich vor irgendeiner Gefahr zu warnen versucht hatte. Dass Nathan mich aufgefordert hatte, Hallstatt zu verlassen.
Sie hatten beide gewusst, dass etwas Schreckliches bevorstand – und eigentlich hatte ich es auch gewusst, weil es mir von meinen Albträumen, meinen Visionen vorhergesagt worden war.
Eine Entführung. Eine Frau … nein, ein Mädchen, das in einen Kofferraum gesperrt ist. Zuerst hält das Mädchen ihr Gefängnis für einen Sarg. Dann wird es daraus befreit, in einen anderen Raum gebracht … wo die zweite Gefangene hockt … Mia. Das Mädchen blickt hoch, blickt in die Augen eines Entführers, weiß plötzlich, wer er ist. Kein Mensch. Sondern ein Nephil. So groß ist das Entsetzen, so namenlos, so abgrundtief. Ja,
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