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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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abgelegt worden zu sein. Und noch etwas anderes unterschied ihn von allen anderen Büchern in den Regalen: Der Einband wirkte abgegriffen, war am unteren Rand sogar leicht eingerissen. Es waren nur wenige Millimeter, eigentlich nicht der Rede wert, aber doch ein Schaden, der nicht nur auf seinen Gebrauch verwies, sondern auch darauf, dass irgendjemand in diesen Räumen kurz auf die übliche Perfektion verzichtet hatte. Zutiefst verwirrt über diesen Umstand, nahm ich den Inhalt des Bildbandes erst gar nicht wahr. Erst nachdem ich eine Weile von allen Seiten auf das Buch gestarrt hatte, las ich, dass er außergewöhnliche Fotografien von Bergen und Gletschern beinhaltete.
    Vorsichtig beugte ich mich darüber, als wäre das Buch ein lebendiges Wesen, das man durch eine hektische Bewegung aufwecken und feindselig stimmen konnte. Es fiel mir schwer, den Deckel zu öffnen, aber nachdem ich mich erst dazu überwunden hatte, blätterte ich Seite für Seite durch. Bald wurde mir meine gebückte Haltung zu unbequem. Weiterhin vorsichtig und möglichst lautlos ließ ich mich auf die weiße Couch nieder, griff nach dem Bildband und zog ihn auf meinen Schoß. Ich blätterte weiter. Wie der Schutzumschlag wirkten auch die Seiten abgegriffen, eine hatte sogar ein Eselsohr – ausgerechnet jene, auf der die Gletscher des Dachsteingebirges abgebildet waren. Ich starrte darauf. Der Erinnerung an das, was einst hier im Wohnzimmer geschehen war, konnte ich mich entziehen, eine andere aber wurde plötzlich übermächtig – nämlich, wie mich Caspar hoch auf den Berg verschleppt, mich dann auf einem Felsvorsprung hatte liegen lassen und ich vor Angst fast gestorben war, in die Tiefe zu fallen.
    Mir fiel ein, dass er diesen Ort als einen bezeichnet hatte, der zu ihm passte. So wie er sein ganzes Haus in Schwarz- und Weißtönen eingerichtet hatte, hatte er sich in einer kargen Gegend, die von weißen oder grauen Gipfeln vor einem blassen Himmel dominiert wurde, in der keine Blumen mehr wuchsen und keine Bäume, zumindest keine kräftigen, grünen, sondern nur solche, die gekrümmten Gestalten glichen, am wohlsten gefühlt. Nicht nur, dass die Luft immer dünner wurde, je höher es den Berg hinaufging – vor allem wurde es einsamer. Nur aus weiter Ferne konnte man auf die Massen im Tal hinabschauen – die Massen, die Caspar Füllfleisch genannt hatte … Pöbel … Pack …
    Ich blätterte wieder ein paar Seiten weiter. Wenn ich bisher daran gezweifelt hätte, dass dieses Buch schon mehrmals durchgeblättert worden war, so hätte ich nun den endgültigen Beweis dafür gefunden – eine kleine Broschüre über eine Lodge hoch oben am Dachstein nämlich, die mir nun entgegenfiel. Es schien ursprünglich eine einfache Hütte gewesen zu sein – vor allem für Bergsteiger und Skiwanderer gedacht. Doch nach ihrer Renovierung warteten neben den Gruppenräumen auch Einzel- und Doppelzimmer auf Gäste, die die Lodge nicht nur zu Fuß, sondern auch mit der Gondel erreichen konnten. Nachdenklich las ich die Broschüre durch und legte sie wieder ins Buch zurück. Ich hatte keine Ahnung, was ich damit anfangen sollte – und im nächsten Augenblick spielte sie auch keine Rolle mehr. Unwillkürlich war mein Blick auf das Fenster gefallen – jenes gekippte Fenster, das vorhin meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Es war tatsächlich einen Spalt weit geöffnet, und aus dem Freien drang das Geräusch eines absterbenden Motors zu mir herein. Ich legte den Bildband zurück auf den Tisch, ging auf das Fenster zu. Von hier aus konnte man meine Villa noch besser sehen als erwartet, Teile des Gartens, der Terrasse, natürlich den Hauseingang. Nicht weit davon entfernt parkte Lukas’ Auto.
    Erleichtert darüber, dass er zurückgekehrt war, verließ ich das Wohnzimmer. Während dort meine Schritte von dem weißen, flauschigen Teppich gedämpft wurden, hallten sie in der Eingangshalle laut vom kalten Marmor wider. Erst als ich bei der Haustür angekommen war, fiel mir etwas Merkwürdiges auf. Caspars Villa stand seit fünf Jahren leer, und draußen konnte man all die Spuren sehen, die die die Zeit hinterlassen hatten. Doch hier drinnen war alles unberührt von Schmutz und Staub. In den Ecken verfingen sich keine Spinnennetze, die Fenster waren geputzt, die Böden sauber. Es schien, als würden sich diese Räume in einer Art Dornröschenschlaf befinden, unberührt von aller Welt.
    Ich zog die Haustür hinter mir zu, ließ sie aber angelehnt. Nun,

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