Der Fluch der Abendröte. Roman
Wunde versorgte und sie mit Desinfektionsmittel abtupfte. Obwohl das höllisch brennen musste, kam kein Ton über seine Lippen. Immerhin war der Schnitt nicht ganz so tief, wie ich anfangs gedacht hatte. Als der Blutfluss nachließ, klebte ich ein Pflaster über die Wunde und wischte Lukas das verkrustete Blut von seinem Gesicht. Ich bot ihm an, sein blutbeflecktes Hemd gegen eines von Nathan auszutauschen, doch er winkte ab.
»Das ist nicht nötig …«
»Hast du Kopfschmerzen? Schwindelgefühle? Es könnte eine Gehirnerschütterung sein und …«
»Mir geht es gut, wirklich!«, fiel er mir ins Wort.
Wie gebannt starrte er auf das Telefon. Wahrscheinlich ging ihm wieder und wieder durch den Kopf, was er erlebt hatte. Die Männer … wer waren die sechs Männer, die das Auto aufgehalten und ihn zusammengeschlagen hatten? Und was taten sie in diesem Augenblick den Mädchen an?
Nicht zu wissen, was die beiden durchmachen mussten, war auch für mich das Unerträglichste. In den letzten Tagen hatte ich mich vor meinen Albträumen und Visionen gefürchtet – nun hoffte ich, dass erneut Bilder vor meinem inneren Auge aufsteigen und mir zeigen würden, wo Aurora war, was mit ihr geschah, wie es ihr ging. Alles … alles hätte ich besser ertragen als diese Ungewissheit. Doch nichts dergleichen geschah. Nun, da meine Vorahnungen eingetroffen waren und ich jetzt wusste, wer die Frau in meinen Träumen gewesen war, war das Band zwischen uns wie gekappt. Ich konnte an sie denken und sie beschwören, durchzuhalten, aber ich hatte keine Ahnung, ob die Liebe, die Wärme, die Hoffnung, die ich ihr mit meinen Gedanken zu schicken versuchte, sie erreichte. Vielleicht lag es daran, dass sie nicht länger nur meine Tochter war, sondern eine Nephila – und ich zwar in die Haut meines Kindes schlüpfen, aber es nicht mit dieser fremden Macht aufnehmen konnte.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Lukas, den Blick immer noch starr aufs Telefon gerichtet, »sie müssten sich längst gemeldet haben! Wenn sie doch Geld wollen!«
Ich biss mir auf die Lippen, um nicht laut zu schreien. Aber sie wollten doch kein Geld! Sie wollten … ja, was genau wollten sie eigentlich? Aurora um ihrer selbst willen? Oder weil sie Nathans Tochter war?
Und die noch wichtigere Frage lautete: Wer stand hinter diesen sechs Männern?
Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie nur Helfershelfer waren – während der eigentliche Auftraggeber sich im Hintergrund hielt. Und vielleicht war dieser Auftraggeber Caspar von Kranichstein.
Ja, nun war niemand zur Stelle, der mir hätte ausreden können, dass Caspar nicht tot war. Dass er in seine Villa zurückgekehrt, mich dort belauert und einen Plan ausgeheckt hatte, um mir Aurora zu rauben. Ich hatte keine Ahnung, wie es ihm gelungen war, Nathan von uns wegzulotsen, denn nie und nimmer würde Nathan noch einmal auf ihn hereinfallen so wie damals, als ich mit Aurora schwanger war. Doch wie auch immer: Nathan war fort, und Caspar hatte leichtes Spiel. Nicht nur Aurora – auch ich war ihm schutzlos ausgeliefert.
Merkwürdig war allerdings, dass die Entführer einen Moment abgewartet hatten, in dem Aurora und ich getrennt gewesen waren. Warum? Weil ich nicht zählte? Weil Caspar es nur auf sie, nicht auf mich abgesehen hatte? Und war es ein Zufall, dass das Fenster seines Wohnzimmers gekippt gewesen war, oder ein Lockmittel, um mich dazu zu bringen, das Anwesen zu betreten, es zu durchsuchen und diesen Bildband zu finden?
Vorhin hatte ich keine Zeit mehr gehabt, darüber nachzudenken, nun hätte ich schwören können, dass er für mich bestimmt gewesen war, dass mir irgendjemand etwas damit zu sagen versuchte.
Ich schloss die Augen, aber sah nichts als Schwärze. Nur mühsam konnte ich am Rand des Abgrunds balancieren, der sich vor mir auftat. Die Angst um Aurora drohte mich zu verschlingen, die Verzweiflung darüber, dass Nathan mich nicht einfach nur allein, sondern im Stich gelassen hatte, wurde übermächtig und die Versuchung, einfach aufzugeben, zusammenzubrechen, mich ganz und gar dem Gefühl der Hilflosigkeit hinzugeben, immer stärker.
Doch dann öffnete ich die Augen wieder.
Damals, sagte ich mir immer wieder, damals hatte ich es auch geschafft … hatte der Gefahr getrotzt, hatte Caspars Versuchungen widerstanden, hatte dem Anblick der kämpfenden Nephilim und der verrückten Josephine irgendwie standgehalten. Und auch jetzt musste ich allem standhalten. Vor allem aber musste ich
Weitere Kostenlose Bücher