Der Fluch der Abendröte. Roman
mehr bewusst, dass Caspar das Schöne, Luxuriöse, Teure zwar an sich gerafft, aber es nie wirklich genossen hatte. Eins zu eins schien er den Anweisungen eines besonders fähigen Innenarchitekten gefolgt zu sein – dem er zwar seine grundsätzlichen Vorlieben für das Schlichte und Schwarz-Weiße genannt, dessen Kreativität er aber nicht durch spontane Einfälle angespornt hatte. In diesen Räumen war er als tadelloser Gastgeber aufgetreten, dessen erlesener Geschmack von Kennern goutiert wurde, als strenger Herr seiner Dienerschar, die seinen nur geflüsterten Befehlen stets gehorcht hatte, als jemand, der sein Leben bis ins Letzte unter Kontrolle hatte. Ob er hier aber auch nur einen Tag lang glücklich gewesen war, sich wohl gefühlt und sich seines Lebens erfreut hatte, bezweifelte ich. Er hatte hier gewartet – auf mich, auf Aurora. Aber richtig gelebt hatte er nicht. Er hatte in der teuer eingerichteten Küche nie gegessen, hatte in der marmornen Badewanne nie gebadet. Hier war alles edel – aber hier hatte nie jemand laut gelacht, geweint, gestritten, diskutiert. Die einzigen heftigen Gefühle, die hier jemals ausgelebt worden waren, waren sein Hass auf Nathan gewesen und die Enttäuschung darüber, dass ich ihn und seine Liebe zurückgewiesen hatte.
Statt Unbehagen überkam mich Mitleid, statt Ekel Trauer. Mir graute vor dieser Existenz – und noch mehr graute mir vor der Frage, ob sie mir auch etwas über Nathan sagte. Auch wenn er und Caspar sich in so vielem unterschieden – glichen sie sich nicht auch irgendwo in diesem Streben nach Perfektion? Gewiss, bei Nathan manifestierte sich dieses Streben nicht in einer edlen Einrichtung und einem tadellosen Auftreten. Aber das glückliche Familienleben, das wir geführt hatten – hatte es insgeheim nicht Risse und Sprünge aufgewiesen, die er meisterhaft zu vertuschen versucht hatte? Hatte er diese vielen glücklichen Momente, die wir erlebten, wirklich in ihrer ganzen Intensität gefühlt – oder nur inszeniert, um sie durch mich, nicht aber selbst zu erleben?
Unsinn!, wies ich mich selbst zurecht. Unser Leben war nicht immer einfach, und vielleicht hatten wir zu viele Dinge unausgesprochen gelassen – aber eine Lüge war es nicht. In Nathans Armen hatte ich mich nie tot gefühlt wie in Caspars Nähe. Ich hatte unsere Welt vielleicht für etwas heiler gehalten, als sie tatsächlich war – doch keinesfalls war sie so steril wie dieser Ort! Und dafür, dass Nathan verschwunden war … einfach so … ähnlich wie damals in Salzburg, musste es eine andere Erklärung geben als die, dass er mich zu wenig liebte und dass er unser gemeinsames Glück zu wenig gefühlt hatte!
Fast trotzig stieß ich meine Ferse auf den kalten Marmorboden, während ich mich gegen die Zweifel wehrte, die in mir aufstiegen … die mir irgendjemand eingab … wer eigentlich? Caspars … Geist?
Aber das war unmöglich! Caspar war nicht hier! Das Haus stand leer! Dass mich vorhin jemand Sophie gerufen hatte, musste eine Sinnestäuschung gewesen sein.
Mittlerweile hatte ich fast alle Räume gesehen – auch die Geschäftsräume im Untergeschoss, wo Computer standen, die nicht aussahen, als hätte man in den letzten Jahren jemals daran gearbeitet, und die Schlafzimmer im oberen Stock, die denen eines Hotels glichen. Der einzige Raum, der noch fehlte, war das große Wohnzimmer. Am liebsten hätte ich es gemieden, aber ich wusste: Wenn ich ging, ohne auch dort nachzusehen, würde mich wenig später wieder diese Unruhe beschleichen.
Ich öffnete die letzte Tür, verharrte lange auf der Schwelle und wappnete mich gegen meine Erinnerungen. Sie erschienen mir wie unsichtbare Feinde, die irgendwo lauerten, um über mich herzufallen, mich zu packen und zu schütteln. Doch als ich den Raum betrat, blieben sie aus. Ich war viel zu irritiert – von einem Detail, das mir sofort ins Auge fiel.
Es war ein Bildband, der auf dem Couchtisch mit geschwungenen Füßen und einer mattglänzenden Glasplatte lag – dem Tisch, an dem ich einst mit Caspar gesessen hatte, nicht weit von dem weißen Klavier entfernt, auf dem Caspar zuvor gespielt hatte. Auch wenn es nicht ungewöhnlich war, einen Couchtisch mit Bildbänden zu schmücken, so wirkte dieser Anblick hier befremdend – einfach, weil der Band schief lag. Während ansonsten jedes Detail der Einrichtung so wirkte, als wäre es förmlich mit dem Lineal auf seinen akkuraten Platz gerückt worden, schien der Bildband achtlos hier
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