Der Fluch der Abendröte. Roman
ich das Zimmer nicht verlasen, jetzt, wo ich über seine Schwelle getreten war. Ich drehte mich einmal im Kreis, sah, dass die Tür zum Badezimmer nur angelehnt war. Ich stieß sie mit dem Fuß auf und wich zurück. Der säuerliche Gestank nach Alkohol hing hier noch durchdringender in der Luft, weil es kein Fenster gab, durch das er abziehen konnte. Auf der Ablage über dem Waschbecken befanden sich keinerlei Toilettenartikel, sondern weitere Flaschen. Ich blickte mich um – und entdeckte weder Handtücher noch eine Zahnbürste, weder einen Kamm noch ein Stück Seife.
Ein unangenehmes Kribbeln lief über meinen Rücken, von dem ich nicht genau sagen konnte, woher es rührte. Schnell trat ich ins Zimmer zurück. Das Einzige, was ich noch nicht inspiziert hatte, war der Schrank aus Zirbenholz, dessen süßlicher Duft sich dem säuerlichen des Alkohols widersetzte. Als ich den Schrank öffnete, quietschte die Tür. Der Luftzug ließ die Kleiderhaken erzittern; sie stießen aneinander und gaben ein klirrendes Geräusch von sich. Ich zuckte zusammen, als ich sah, dass der Schrank nicht ganz leer war: An einem der Haken hing ein einsamer, schwarzer Mantel – sehr weit geschnitten, aus feinem Stoff, altmodisch anmutend … und für mich so vertraut. Ich hatte Caspar nie anders gesehen als in schwarzer Kleidung – und mehrmals auch in diesem Mantel. Er hatte ihn auch an dem Tag getragen, als er gestorben war … oder von dem ich glaubte, dass er gestorben war.
Vorsichtig streckte ich meine Hand aus, um ihn zu betasten, und zuckte gleich wieder zurück, als wäre der Mantel ein gefährliches Tier, das mich anfallen, kratzen oder beißen könnte. Obwohl ich ihn kaum eine Sekunde lang berührt hatte, hätte ich schwören können, dass es Caspars Mantel war. Ich schüttelte den Kopf. Unsinn! Auch andere Männer trugen schwarze Mäntel!
Ich wagte kein zweites Mal, über den Stoff zu streichen, doch ich beugte mich vor, roch daran – nichts, weder Schweiß noch Parfüm. Der Mantel wirkte, als wäre er nie getragen worden, doch wie ich so dastand, den Kopf zu diesem Kleidungsstück geneigt, hatte ich das Gefühl, dass eine schwarze Wolke von ihm ausging und mich ganz und gar einhüllte.
Abrupt wich ich zurück, und kurz schien es mir, als würde der leere Ärmel nach mir greifen … über mein Gesicht streicheln … spielerisch und zugleich besitzergreifend …
Mit einer heftigen Bewegung schlug ich die Tür des Kleiderschranks zu und verursachte wieder das klirrende Geräusch der Kleiderhaken. Doch ein anderes Geräusch erschreckte mich noch viel mehr. Ich wollte mich gerade umdrehen, als ich hörte, wie sich die Zimmertür öffnete. Ein kalter Luftzug traf mich, aus den Augenwinkeln nahm ich einen Schatten wahr. Ich hörte eine Stimme – und erkannte sie, noch ehe ich die Gestalt erblickte, die nachlässig im Türrahmen lehnte.
»Bist du Nathan überdrüssig, dass du zu mir kommst?«
Krämpfe, Schmerzen, Zittern, Blitze, Zähneklappern.
Es gab kein Fleckchen Boden, auf dem sie sicher stehen oder wenigstens liegen konnte. Sie hatte das Gefühl, dass dieses Tosen sie nicht einfach nur mitriss, sondern ganz und gar verschlang. Und dann war da plötzlich eine absolute und gnädige Schwärze. Die Ohnmacht kündete sich nicht langsam an. Ihr Gehirn schaltete sich so abrupt aus wie ein Fernseher, dessen Kabel aus der Steckdose gezogen wird. Ein letztes Aufblitzen, dann war alles still. Das Erwachen nach einer Ewigkeit in der Dunkelheit ging ungleich langsamer vonstatten. Als sie zu sich kam, fühlte sie sich kurz wie vorhin im Kofferraum: völlig hilflos, ängstlich, ohne Orientierung. Sie wusste nicht, wo sie war – allerdings wusste sie sofort, wer sie war.
Ich bin Aurora Grigori. Ich bin eine Nephila.
Ihr Körper spannte sich an, doch diesmal war es nicht die fremde Macht, die von ihr Besitz ergriff und sämtliche Glieder erstarren ließ, sondern die Furcht vor dieser Macht. Gleich … gleich würde es wieder losgehen … das unerträglich Heftige … das Unaussprechliche … das Starke, viel zu Starke …
Doch zu ihrer Erleichterung blieben die Krämpfe aus. Ihr Herz pochte zwar holprig, aber energisch. Sie konnte in Ruhe atmen, sie konnte sich aufrichten – und sie konnte hören: ein Schluchzen, nämlich Mias Schluchzen. Mia, die wie sie von diesen dunklen Gestalten … den Nephilim entführt worden war.
Aurora blickte sich um. Der Nephil, der sie hierhergebracht, der sie vorhin verhöhnt und über
Weitere Kostenlose Bücher