Der Fluch der Abendröte. Roman
und fühlen als früher – doch eine Antwort auf diese Frage hatte sie nicht. In diesem Augenblick war es auch viel wichtiger, Mia zu beruhigen.
»Was ist nur mit dir passiert?«, fragte diese immer wieder. »Was haben sie mit dir gemacht? Sie kamen so plötzlich … erinnerst du dich … wir wollten das Auto deiner Mutter zur Reparatur bringen … und plötzlich waren sie da … sie standen mitten auf der Straße … diese schwarzen Männer … wer sind sie nur?«
Aurora zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«
Das war nicht ganz gelogen. Sie wusste zwar, dass es Nephilim, Schlangensöhne, waren, aber ihre Namen kannte sie nicht.
»Was sollen wir denn jetzt tun? Wir müssen raus hier! Wir müssen …«
Mia verstummte plötzlich, legte ihren Kopf leicht schief, als schien sie zu lauschen. Auch Aurora hörte es – hörte ein Flüstern und blickte zur Tür. Immer durchdringender wurde das Flüstern, kam nun von allen Seiten. Ihre Haut begann wieder zu kribbeln, kleine Stromstöße fuhren durch ihren Körper. Still!, hätte sie am liebsten geschrien. Seid doch still!
Doch dann erkannte sie, dass das Flüstern nicht von jenseits der Tür kam. Es kam aus ihr selbst. Sie war es, deren Lippen sich bewegten, ohne dass sie es bemerkt hatte.
»Was redest du denn da?« Eben hatte Mia zugelassen, dass sich ihre Schultern berührten, nun sprang sie auf, presste sich in die gegenüberliegende Ecke und starrte Aurora wieder voller Furcht an. »Was redest du da?«, fragte sie wieder.
Aurora wusste es nicht. Die Worte kamen aus ihrem Mund, doch sie konnte sie genauso wenig kontrollieren wie vorhin ihre Krämpfe. Es waren Worte in anderen Sprachen, in weitverbreiteten und in seltenen Dialekten, Worte über Dinge, die nichts mit ihrer Lage zu tun hatten, ganz ohne Zusammenhang. Sie zitierte Philosophen und Mathematiker, Physiker und Astrologen. Sie redete von verschiedenen Ländern der Welt und unterschiedlichsten Epochen, chirurgischen Eingriffen und Kochrezepten, von Börsenkursen und Tiefseeforschung. Und sie konnte nicht damit aufhören.
»Aurora!« Mia schrie nicht einfach nur – sie kreischte hysterisch.
Doch das Flüstern ging weiter, und Aurora konnte nichts anderes tun, als Mia hilflos anzustarren, sich ansonsten aber der fremden Macht zu überlassen. Diesmal war sie nicht ganz so gewaltig – doch ausgeliefert war sie ihr dennoch. Aber wenigstens ihren Körper beherrschte sie noch nicht. Aurora konnte aufstehen, hin und her gehen, schnell, immer schneller. Sie versuchte den Worten davonzulaufen, doch jene Macht, die sie ihr entlockte, ließ nicht von ihr ab: Sie konnte sie nicht einfach abschütteln, nicht vor ihr fliehen, so schnell sie auch rannte. Vielleicht war es gar nicht sie, die rannte, sondern vielmehr die Macht, die sie hin und her trieb, sie von einer Ecke in die andere hetzte. Sie rannte nicht, vielmehr schien sie zu springen, mit riesengroßen Schritten, mit gewaltiger Kraft – immer schneller.
Mia kreischte nicht mehr, sondern war völlig verstummt. Als Aurora an ihr vorbeistürmte, konnte sie erkennen, dass sie kalkweiß im Gesicht geworden war. Sie wollte ihr etwas sagen, sie beruhigen, doch es gelang ihr nicht. Die Macht bestimmte ihre Worte. Und die Macht bestimmte ihre Schritte. Sie hatte das beklemmende Gefühl, dass der Raum immer kleiner wurde. Gleich … gleich würde sie beginnen, mit dem Kopf voran gegen die Wände zu laufen, würde mit den Fäusten dagegenschlagen, bis sie einstürzten. Vor fünf Jahren wäre sie noch nicht stark genug dazu gewesen – aber seither war die Macht in ihr gewachsen. Sie konnte mehr Sprachen sprechen als zuvor, trug viel mehr Wissen in sich – aber sie hatte nicht die geringste Kontrolle über sich.
Ihre Verzweiflung wuchs, als sie wieder und wieder im Kreis lief … nein, gelaufen wurde, eine Gefangene ihrer selbst und diesmal nicht von gnädiger Schwärze überwältigt. Ihre Kräfte, das spürte sie, würden sich nicht so schnell erschöpfen. Immer weiter und weiter musste sie rennen, ganz gleich, ob sie es ertragen konnte oder nicht.
Nein!, rief sie stumm. Nein!
Die Macht gab sie nicht frei, aber plötzlich stieg wieder Caras Gesicht vor ihr auf, dieses schöne, ebenmäßige, beruhigende Gesicht. Die grünen Augen waren starr auf sie gerichtet, bezähmten kurz, was in ihr tobte, zumindest so lange, dass sie nicht mehr in fremden Sprachen sprechen musste, sondern einfach nur flehen konnte: »Hilf mir, Cara! Hilf mir! Was soll ich
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