Der Fluch der Abendröte. Roman
denn jetzt tun?«
VI.
Auf seine Frage, ob ich Nathan überdrüssig sei, hatte ich nicht geantwortet. Ich starrte ihn nur an, bewegte mich nicht – genauso wenig wie er. Er hatte sich an den Türrahmen gelehnt und musterte mich von dort: Caspar von Kranichstein. Ohne Zweifel, er war es wirklich und nicht etwa ein Doppelgänger; zu offenkundig war die Ähnlichkeit, zu wissend der Blick der schwarzen Augen, zu schmal das Lächeln. Aber er war nicht mehr der Alte.
Er war zwar lebendig – aber von Augenblick zu Augenblick wurde mir bewusster, dass niemand toter sein konnte als er. Er atmete, er hatte zu mir gesprochen – und doch war diese Gestalt vor mir nur ein Zerrbild, eine leblose Hülle, in der nichts mehr von dem zu stecken schien, was mir früher so große Angst gemacht und was mich zugleich so fasziniert hatte. Der alte Caspar war immer elegant gewesen mit seiner streng anmutenden schwarzen Kleidung und dem nach hinten gekämmten Haar. Jede seiner Regungen war stets mit Bedacht ausgefallen: Seine Selbstbeherrschung schien so extrem, dass ihm diese eigentümliche Starre anhaftete. Und er war immer unglaublich präsent gewesen. Ihn zu sehen hieß immer auch, ihn zu fühlen. Seine Aura legte sich um sein Gegenüber wie ein erstickendes Tuch und rang Ehrfurcht ab, ohne dass er dafür laut und fordernd werden musste.
Doch dieser Caspar, der heute vor mir stand, hatte nichts von all dem: Seine Kleidung war zwar schwarz, aber zerrissen und dreckig, das Hemd hing aus seiner Hose, die Schuhe waren schlammbefleckt, seine Haare standen wirr vom Kopf ab. Das weiße Gesicht war von Bartstoppeln übersät, die Tränensäcke unter den Augen wirkten wie bläuliche Geschwülste, sein Kinn hing so schlaff herunter, als hätte sich die Haut gänzlich von der Gesichtsmuskulatur gelöst. Schon früher hatte ich oft den Eindruck gehabt, sein Gesicht wäre nichts weiter als eine wächserne Maske gewesen, die manchmal verrutscht war – doch diese Maske jetzt war nicht einfach nur aus Wachs, sondern aufgequollen und schief.
Und auch von der üblichen Starre war nichts zu spüren. Er löste sich nun vom Türrahmen, ging, nein taumelte auf mich zu, nicht aufrecht, nicht beherrscht, sondern wie eine Marionette, die lustlos an den Fäden baumelte, weil niemand sie hielt. Erschreckend war dieser Anblick, aber weder angst- noch respekteinflößend, eher mitleiderregend und widerwärtig. Unmöglich konnte man diesen Caspar ernst nehmen! Er wirkte so lächerlich wie eine stümperhafte Karikatur!
Ein leicht gequälter Ausdruck zeichnete sich nun auf seinem Gesicht ab, aber verflüchtigte sich schnell wieder. Dass ich ihn in diesem jämmerlichen, erbärmlichen Zustand sah, schien ihn nicht sonderlich zu stören. Stärker als Qual und Spott, stärker als Scham und Ärger schien seine Gleichgültigkeit.
»Du … du lebst?«, brachte ich endlich hervor.
Ein Ruck ging durch seine Gestalt. Drei Schritte hatte er mittlerweile ins Zimmer gemacht, nun wankte er auf mich zu. Nur mühsam schien er die Balance halten zu können. Ich wich instinktiv zurück, doch er kam mir nicht zu nahe, ging einfach an mir vorbei, bis er vor dem Tisch stand und sich schwer darauf abstützte. Das Brummen der Fliegen schien anzuschwellen. Seine Stimme, blechern wie damals, wurde fast gänzlich davon übertönt.
»Ja, ich lebe«, sagte er – und klang nicht nur gleichgültig, sondern auch irgendwie gelangweilt. »Wenn man es denn leben nennen will. Mir fällt das schwer, aber manch einem würde es reichen. Ein Bett, ein Dach, genug zu saufen … was will man mehr … die meisten wollen nicht mehr … die meisten …«
Er brach ab, aber ich hatte gleich im Ohr, wie er früher seinen Satz beendet hätte. Dem Menschenpack würde es reichen … dem Füllfleisch, das nichts anderes antriebe, als sich gegenseitig totzuschlagen oder sich träge fettzufressen, wenn es die Nephilim nicht gäbe, die ihm Befehle erteilten.
Voller Verachtung und Arroganz hatte er damals gesprochen – während sein heutiges Bekenntnis eher kleinlaut ausfiel.
Als er sich zu mir umdrehte und sich vom Tisch löste, schwankte er wieder leicht. »Ja, ich lebe«, wiederholte er freudlos. »Aber ich könnte gerne darauf verzichten, glaub mir. Nur scheint es, dass ich genauso feige bin wie meine liebe Schwester Cara. Sie hat es nicht geschafft, mich zu töten – und ich schaffe es leider auch nicht. Ich habe oft mit unserem Vater über sie gespottet, weil sie sich so erbärmlich anstellte.
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