Der Fluch der Abendröte. Roman
inne. Ich war mir nicht sicher, was mich aufhielt: eine jähe Eingebung, oder vielmehr eine vages Gefühl – das Gefühl seiner Präsenz.
»Vielleicht … vielleicht hat er seinen richtigen Namen nicht angegeben«, setzte ich an, während ich mich langsam wieder umdrehte. »Vielleicht kennen Sie einen Mann, der so aussieht wie Caspar von Kranichstein. Er ist ziemlich groß und schlank, sehr schlank, richtig dünn. Sehr auffällig sind seine Finger, sie sind schmal und lang. Meistens ist er schwarz gekleidet. Auch seine Haare sind schwarz, und seine Augen …«
Während ich redete, konzentrierte sich der Mann wieder auf seinen Zettel. Während er ihn ausfüllte, stieß er beinahe eine Thermoskanne um, aus der Dampf stieg. »Fünfunddreißig«, presste er plötzlich schmallippig hervor.
»Bitte?«, entfuhr es mir.
»Der Mann, den Sie suchen, wohnt in Zimmer fünfunddreißig. Merkwürdiger Kauz. So jemanden sieht man hier oben nicht oft. War den ganzen Sommer über hier und scheint noch länger bleiben zu wollen.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber was geht’s mich an. Hauptsache, er zahlt regelmäßig.«
Während der – für seine Verhältnisse – erstaunlich vielen Worte hatte er den Kugelschreiber in seiner Hand gedreht. Nun fuhr er wieder auf dem Papier herum und machte ein kratzendes Geräusch, das in meinen Ohren schmerzte. Wie erstarrt blieb ich stehen.
Ohne mich anzusehen, deutete der Mann zu einer Treppe. »Dort hoch, den Gang entlang, dritte Tür rechts«, erklärte er knapp.
»Danke«, presste ich hervor. Meine Stimme war nur ein Hauch. Wie sie schienen auch meine Beine sämtliche Kraft verloren zu haben, als ich mich abwandte und die Treppe hinaufstieg. Bei jeder Stufe hatte ich das Gefühl, meine Füße würden auf dem Boden festkleben – ich nahm alle Kraft zusammen, um vorwärtszukommen, von Neugierde, aber auch von Furcht getrieben.
Ich war darauf vorbereitet gewesen, hätte den Weg hierher niemals auf mich genommen, wenn ich nicht tief in meinem Herzen daran geglaubt hätte, und dennoch konnte ich jetzt nichts anderes denken als: Das kann nicht sein! Unmöglich, dass Caspar von Kranichstein noch lebt!
Endlich kam ich vor einer Holztür an, auf der aus Messing die Zahl 35 befestigt war. Der unangenehme Geruch nach Staub und Schweiß hatte sich verflüchtigt, stattdessen duftete es intensiv nach Zirbenholz. Ich zögerte, lauschte – es war nichts zu hören. Endlich hob ich die Hand, verzichtete darauf zu klopfen, sondern griff gleich nach der Klinke. Gewiss erwartete mich hinter der Tür ein schlichter Raum – und doch hatte ich das Gefühl, als würde ich nichts Geringeres als das Tor zur Hölle aufstoßen. Ich nahm allen Mut zusammen, drückte die Klinke herunter, ließ sie dann hastig wieder los. Die Tür sprang auf, war jedoch nur einen Spaltbreit geöffnet. Immer noch hörte ich keinen Laut, nur mein eigenes Herz, das mir gegen die Brust hämmerte. Ich konnte mich nicht überwinden, die Klinke ein zweites Mal zu berühren, sondern trat mit dem Fuß gegen die Tür. Sie flog auf und gab den Blick in das Zimmer frei.
Ich hielt den Atem an.
Das Zimmer war leer.
Ja, das Zimmer war leer und zugleich doch nicht. Wie in Zeitlupe trat ich über die Schwelle, während mein Blick alle Details blitzschnell erfasste. Das Bett war frisch bezogen, und sowohl die Decke als auch die Polster lagen so akkurat an ihrem Platz, als hätte schon lange keiner mehr darin geschlafen. Doch das war das einzige Fleckchen im ganzen Raum, wo noch Ordnung herrschte – ansonsten war er in einem fürchterlichen Zustand. Der kleine Holztisch vor dem Fenster war über und über mit Flaschen bedeckt – Bier-, Wein-, Sekt-, und Schnapsflaschen. Einige waren voll, andere halbleer, zwei waren umgekippt. Die Flüssigkeit war herausgetropft und hatte einen kreisrunden, klebrigen Fleck auf dem hellen Holz hinterlassen. In der Luft hing ein durchdringender Geruch nach Alkohol, der Übelkeit in mir hervorrief. Die Flaschen hatten Fliegen angelockt, schwarze, dicke Tiere, die nun den Tisch umsurrten oder ziellos auf der Fensterscheibe krabbelten.
Ich schlug mir angewidert die Hand vor den Mund. Es war unmöglich, dass Caspar hier lebte! Das passte nicht zu ihm, wo er doch so reinlich, ja fast schon steril war.
Nein, Caspar lebte nicht in diesem Zimmer, er war seit Jahren tot, Cara hatte ihn getötet, er hatte nichts mit Auroras Entführung zu tun!
Eigentlich war ich mir dessen jetzt sicher – und dennoch konnte
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