Der Fluch der Abendröte. Roman
Einsamkeit hier oben auf ein Zeichen menschlichen Lebens gestoßen, und doch fühlte ich mich verloren. Die scharfen Konturen des Hauses verloren sich im diesigen Licht, als wäre es nur ein Trugbild. Die Stühle und Tische, die an der Außenwand Richtung Plattform gestapelt worden waren, glichen dunklen Gestalten, die mich belauerten. Kein Laut war zu hören, als ich die Treppe zur Eingangstür hinaufstieg, nur meine Schritte und mein Atem, und doch hatte ich das Gefühl, von tausend unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Die Fenster wirkten wie schwarze Löcher – lediglich hinter einem war die Ahnung eines Lichtscheins zu erkennen.
Die Stufen waren nass von Nebel und Regen, so dass ich fast ausrutschte. Gerade noch rechtzeitig packte ich das Holzgeländer. Als ich es wieder losließ, klebte eine bräunliche Masse an meiner Handfläche. Kurz blieb ich stehen – leicht gekrümmt, als wäre ich in dieser unwirtlichen Welt nicht ganz so verloren, wenn ich mich möglichst klein machte.
»Warum, Nathan«, kam es mir über die Lippen, »warum? Warum bist du einfach gegangen, obwohl Aurora in so großer Gefahr schwebt?«
Ich versuchte mir sein Gesicht in Erinnerung zu rufen, um Trost zu finden, doch inmitten des Nebels schien es wie alles andere auch hinter einem grauen Schleier verborgen zu sein. Nur Auroras Antlitz konnte ich heraufbeschwören, kurz so klar und deutlich, als stünde sie direkt vor mir. Doch in dieser Einsamkeit wirkte sie kleiner und dünner als sonst, schutzloser und verlorener, und der Ausdruck ihrer Augen, nicht blau, sondern grau wie der Nebel, war unendlich traurig.
Ich zuckte zusammen, als das Licht hinter dem Fenster plötzlich zu flackern begann. Auch wenn dieser Ort gottverlassen wirkte – irgendjemand schien hier zu sein. Ich erreichte die Tür, versuchte sie zu öffnen. Wie das Holzgeländer war auch die Klinke feucht vom Nebel, so dass meine Hand abrutschte. Erst als ich sie ein zweites Mal packte und mit ganzer Kraft niederdrückte, ging die Tür quietschend auf. Ich trat ein. Der Wind stöhnte, als er ins Gemäuer fuhr, in dem offenbar schon lange nicht mehr gelüftet worden war. Im Eingangsbereich hing der salzige Geruch von Essen, das längst verzehrt worden war, und vom Schweiß der Wandergruppen. Gleichzeitig roch es auch harzig vom Holz, mit dem die Wände verkleidet waren, und staubig von den kleinen Flickenteppichen, die auf den hellen Holzdielen verteilt worden waren.
Hinter einer kreisrunden Theke, die offenbar als Rezeption diente, stand ein stämmiger Mann. Ein unerwarteter Gast wie ich schien ihn weder zu erstaunen noch zu interessieren: Obwohl er gehört haben musste, wie ich die Tür geöffnet hatte und auf ihn zugetreten war, blickte er nicht hoch, sondern notierte etwas auf einem Zettel. Erst als ich unmittelbar vor der Theke stand und mich räusperte, traf mich sein äußerst gelangweilter Blick. Abschätzend musterte er meine Jacke, dann blieben seine Augen an meinen leichten Schuhen hängen, die über und über mit Schlamm bedeckt waren. Er kommentierte meine – für die Berge unpassende – Kleidung jedoch nicht.
»Wollen Sie ein Zimmer?«, sagte er grußlos. »Einzel oder Doppel? Oder lieber Gruppenraum? Heute wären Sie dort vielleicht ganz allein.«
Ich rieb meine klammen Hände aneinander. »Ich will kein Zimmer … ich suche jemanden … er könnte hier wohnen … aber ich bin mir nicht sicher …« Ich verstrickte mich immer mehr in umständlichen Erklärungen über einen Prospekt, den ich bei einem Bekannten gefunden hätte, der wiederum seit langer Zeit spurlos verschwunden wäre. Der Mann sah mich einfach nur an. Vielleicht war er nicht gelangweilt und gleichgültig, sondern einfach nur phlegmatisch. Auf jeden Fall schien er nicht bereit, irgendwelche Nachfragen zu stellen.
Mein Gesicht begann in der warmen Luft zu glühen. Ich stammelte wieder Unverständliches; dann erst konnte ich seinen Namen aussprechen – mit gepresster, irgendwie kleinlauter Stimme, als würde ich ein Geständnis ablegen: »Ich suche Caspar von Kranichstein.«
Obwohl mir der Mann bis jetzt so reglos zugehört hatte, kam seine Antwort jetzt unerwartet schnell. »Den Namen habe ich noch nie gehört.«
Ich atmete laut aus, nickte dann. »Ach so …« Ich war mir nicht sicher, ob ich enttäuscht oder erleichtert sein sollte.
Ich wandte mich ab, wollte die Lodge schon verlassen und mich auf den feuchtkalten Rückmarsch machen, doch ehe ich die Tür erreichte, hielt ich
Weitere Kostenlose Bücher