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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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dich schon einmal im Stich gelassen, nicht wahr? Er ist einfach gegangen, ohne sich dir zu erklären … O böser, böser Nathan.« Vermeintlich missbilligend schüttelte er den Kopf, doch als er sich wieder zu mir umdrehte, sah ich erneut ein Funkeln in seinen Augen – diesmal unzweifelhaft belustigt. Trotz seiner Lethargie hatte er nicht verlernt, mir zuzusetzen – und er schien immer noch genau zu wissen, welche Worte er dazu wählen musste. »Dass Nathan aus seinen Fehlern aber auch so gar nicht lernt«, fügte er hinzu. Immer heftiger schüttelte er nun den Kopf. »Ich meine – immer geht er, wenn’s bedrohlich wird, und hofft, dass das genügt. Man muss doch dem Feind ins Gesicht sehen.«
    »Welchem Feind?«
    Er trat zum Fenster, blickte in den Nebel, der dort draußen wie eine weiße Wand stand. Kurz verschwamm das Bild vor meinen Augen. Sein Körper glich einem schwarzen Strich, dessen Ränder sich langsam im Grau auflösten.
    »Welchem Feind?«, fragte ich und trat zu ihm.
    Im Profil betrachtet, wirkte sein Gesicht nicht einfach nur schlaff, verbraucht, leblos, sondern aufgrund der nach unten gezogenen Mundwinkel schwermütig – ein Eindruck, der sich in der lähmenden Stille, die auf uns lastete, noch verstärkte.
    »Weißt du, warum ich mich nach hier oben zurückgezogen habe?«, fragte er plötzlich in die Stille hinein. »Weil ich das Schwarz und das Weiß liebe und ansonsten keine Farben brauche. Hier oben, wo die Luft dünn wird, wo die Pflanzen immer karger wachsen, wo man von mächtigen Bergen umgeben ist, findet man viel Schwarzes und Weißes. Aber dann gibt es Tage wie heute. Graue Tage. Alles fließt ineinander, alles verschwindet, die Grenzen, die Orientierung. Ob schwarz oder weiß. Ob gute oder böse Nephilim … Sie alle werden eins.«
    Sein Blick blieb starr auf die Nebelwand gerichtet, auch dann noch, als er geendet hatte.
    »Wovon redest du nur?«, rief ich. »Irgendetwas weißt du doch, nicht wahr? Deine Andeutungen – was …«
    »Ich kann mir denken, was geschehen ist«, sprach er. Er atmete tief ein, doch es klang wie ein Seufzen, in dem sich all die Lethargie, die Selbstverachtung, die Gleichgültigkeit der letzten Jahre entlud. »Ich habe einmal Besuch bekommen … von meinem Halbbruder César, der herausgefunden hat, dass Cara mich nicht töten konnte …«
    Er machte eine kurze Pause, in der ich mir über seine Familienverhältnisse den Kopf zerbrach. Ich hatte von Caras und Caspars gewalttätigem Vater gehört, jedoch noch nie davon, dass er noch weitere Geschwister hatte. Im nächsten Augenblick zählte das aber auch nicht mehr: »César hat mir von einem Streit berichtet … von einem großen Streit, der die Alten der Wächter entzweite. Es hat ihn zutiefst amüsiert … mich hingegen ließ es kalt … so wie mich alles kaltlässt.«
    Er wandte sich mir zu. Seine Lider hingen schwer über seinen schwarzen Augen.
    »Die Alten sind die Nephilim der Urzeiten, die gemeinsam einen Rat bilden«, stieß ich aus, »Nathan steht nicht gut mit ihnen, weil er in ihren Augen seine Berufung vernachlässigt und sich so manchen Feind gemacht hat. Aber … aber … haben sie auch damit zu tun, dass Nathan Hallstatt verlassen musste?« Ich hielt inne, mir kam ein Gedanke. »Wir hätten es doch bemerkt, wenn sie uns beobachtet hätten, oder nicht? Nathan sagte, die Alten leben nicht einzeln, sondern in Gemeinschaften. Sie wären uns doch aufgefallen, und …«
    Sichtlich gelangweilt wandte sich Caspar von mir ab. »Du weißt nicht sonderlich viel …«
    »Was … was sollte ich denn wissen?«
    »Das fragst du mich? Warum hast du es nicht Nathan gefragt? Du hast fünf Jahre Zeit dafür gehabt, fünf ach so glückliche Jahre!«
    Ich biss mir auf die Lippen. »Bitte …«, stieß ich aus. »Sag es mir … sag mir, was du weißt.«
    Er kreuzte seine Hände vor der Brust, sein Oberkörper begann leicht hin und her zu wippen – vielleicht verriet das Ungeduld, vielleicht einfach nur, dass er seine Regungen nicht unter Kontrolle hatte.
    »Die Hierarchie der Nephilim ist ungleich komplexer, als du glaubst«, setzte er an. »Auch die Alten übernehmen verschiedene Funktionen – mit je eigenen Aufgaben … Das bringt es mit sich, dass sie nicht immer einer Meinung sind und …«
    Viel zu schnell verstummte er wieder.
    »Und deswegen ist es zu einem Streit im Ältestenrat gekommen«, versuchte ich die wenigen Andeutungen in einen Zusammenhang zu bringen. »Worüber?«
    Er hob die

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