Der Fluch der Abendröte. Roman
Aber jetzt denke ich mir: Ich bin nicht besser als sie. Ich tauge zu nichts.«
Fassungslos hörte ich zu. Ich erwartete, dass dieses Eingeständnis des absoluten Scheiterns irgendeinen Triumph in mir auslösen würde – niemand hatte mir je so zugesetzt wie Caspar. Er hatte Nathan töten wollen, er hatte mich selbst bedroht, er hatte vor meinen Augen Menschen umgebracht, er hatte versucht, mir Aurora wegzunehmen. Ja, Caspar war ein Feind … ein Feind gewesen … in diesem Augenblick war er das nicht mehr … war er nur eine mitleiderregende Kreatur.
»Cara hat geschworen, sie habe dich umgebracht …«, stammelte ich.
»Dann hat sie gelogen«, gab er heiser zurück. »Oder vielleicht hat sie sogar die Wahrheit gesagt. Schau mich doch an! Mein Körper mag halbwegs lebendig sein, aber alles andere hat sie vernichtet.«
Sein Gesicht verzerrte sich, die Andeutung eines Grinsens erschien auf seinen bläulich schimmernden Lippen.
Ich wich noch weiter zurück und stieß dabei gegen eine Weinflasche, die auf dem Boden stand. Sie fiel um, und die rote Flüssigkeit versickerte im Teppich.
»Siehst du«, höhnte er, »nicht einmal das bringe ich zustande. Ich kann mich nicht betrinken. Es geht einfach nicht. Ich dachte mir, wovon das Menschenpack etwas versteht, das bringe ich auch zustande. Vergessen. Verdrängen. Mich blind stellen. Aber es funktioniert nicht. Ich habe es immer wieder versucht – doch am Ende war ich schwach oder schläfrig, aber ich hatte nicht vergessen oder verdrängt.«
Er hob die Hand, fuchtelte zunächst ziellos durch die Luft und tippte sich dann an die Stirn.
»Ich kann mich an alles erinnern. Ich sehe alles deutlich vor mir. Ich sehe, wie Nathan Serafina und meinen Sohn getötet hat. Ich sehe Cara … Aurora … dich … Ihr verfolgt mich, ihr gebt keine Ruhe. Und zugleich«, er senkte seine Hand, zuckte mit den Schultern, »und zugleich fühle ich nichts mehr.«
Er machte eine Pause, rieb die Lippen aufeinander, fuhr schließlich etwas ruhiger fort: »Ich frage mich oft, ob Aurora irgendeinen Zauber ausgesprochen hat, damals, als sie auf dem Felsvorsprung meinen Namen rief. Ich meine … in ihr steckt doch eine ganz außergewöhnliche Nephila. Sie ist anders als die anderen. Was hat sie damals gemacht? Was hat sie mit mir gemacht?«
Zum ersten Mal zeigte seine Gleichgültigkeit Risse – genauso wie meine Starre. Dass er ihren Namen auszusprechen wagte, brachte Leben in mich zurück – und Zorn. Vorhin hatte ich mich in seiner Gegenwart zu keiner schnellen Regung mehr fähig gefühlt, nun ballte ich meine Hände zu Fäusten und stürzte auf ihn zu.
»Du Ungeheuer!«, schrie ich. »Wo ist Aurora? Wohin hast du sie gebracht?«
Nur ein Schritt trennte mich noch von ihm. Ich hätte ihn mit meinen Fäusten getroffen – ihn schlagen können. Was mich zurückhielt, war nicht sein ehrlich verwirrter Gesichtsausdruck, der nahezu menschlich wirkte, sondern mein Ekel vor dieser ungesunden, schlaffen Haut. Nein, ich würde ihn nicht freiwillig berühren und sei es nur, um ihn zu schlagen.
»Ach so«, stellte er fest, nachdenklich nun, und ein wenig erschöpft. »Du bist also nicht wegen Nathan hier, sondern … ihretwegen.«
»Wo ist sie?«, schrie ich wieder. »Was muss ich tun, dass du sie mir wiedergibst?«
Irgendwo tief drinnen reifte die Ahnung, dass ich ihm Unrecht tat, dass – so bösartig und zerstörerisch er früher auch gewesen war – er mir diesen leblosen Caspar jetzt nicht vorspielte und so gar nicht in der Lage wäre, mein Kind zu entführen. Doch Wut war leichter zu ertragen als Furcht – und in dieser Einöde konnte ich mit dieser Wut nichts anderes tun, als sie gegen ihn zu richten. Jetzt schien er langsam, ganz langsam zu begreifen, was mich hierhergetrieben hatte und was ich von ihm wollte.
»Was du tun musst, damit ich sie dir wiedergebe?«, wiederholte er meine Frage – verwirrt zunächst, dann mit einem bissigen Unterton, der an den Caspar von früher erinnerte. Irrte ich mich oder rötete sich seine bislang so fahle Haut ein wenig? »Du bist verzweifelt«, stellte er nicht ohne Genugtuung fest – und schien darüber selbst am meisten überrascht: nicht über meine Verzweiflung, sondern darüber, dass ihm das gefiel. Dass ihm überhaupt irgendetwas gefiel.
»Was verlangst du für sie?«, stöhnte ich nur. »Was willst du von mir?«
»Oho«, machte er und schwieg dann lange. Seine rechte Augenbraue hob sich, dann zuckte er mit den Schultern.
»So wie
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