Der Fluch der Abendröte. Roman
einer unsichtbaren Gefahr zu schützen, sondern weil die Decke so niedrig war und ich fürchtete, mir den Kopf zu stoßen.
So bedrückend und unheimlich dieser Raum auch war, mit dem Gefängnis aus meinen Träumen hatte er nichts zu tun. Noch ehe ich ihn in Augenschein genommen hatte, war ich mir sicher: Hier würde ich Aurora und Mia nicht finden. Ich seufzte enttäuscht, und als ich wieder tief einatmete, hatte ich das Gefühl, die modrige Feuchtigkeit würde sich auf meine Lungen legen und sie förmlich verkleben. Ein Frösteln überkam mich. Die Kälte hier … sie schien so …
alt
zu sein. Ja, mir fiel kein besseres Wort dafür ein. Es war, als würde sie mich nicht nur zum Zittern bringen, sondern auch meine Haare ergrauen lassen und mein Gesicht mit Runzeln zeichnen.
Immerhin – das Licht, das die Glühbirne ausstrahlte, schien mir nicht mehr ganz so diffus. Meine Augen hatten sich an das Grau gewöhnt und konnten nun Schattierungen ausmachen, das Hellere der Decke vom Dunkleren der Ecken unterscheiden. Schimmel und Staub hockten dort, und im flackernden Licht der Glühbirne glichen sie einem grauen Tier, das sich windet und duckt. Weiter oben waren die Wände nicht schimmelig, sondern trocken, aber der weiße Kalk war abgeblättert und auf Spinnweben gerieselt, die so aussahen, als wären sie im ewigen Eis erstarrt, in das sich schon seit langem nichts Lebendiges mehr verirrt hatte.
Der Raum war verwinkelt. Vom größeren, in dem die Glühbirne hing, ging ein kleinerer, noch niedrigerer ab. Von dort hörte ich plötzlich ein unterdrücktes Stöhnen.
Ich fuhr herum.
»Hast du das auch gehört?«, rief ich.
Caspar war knapp vor mir stehen geblieben, stürmte nun aber als Erster in den zweiten Raum. Er trat beiseite, so dass ich sehen konnte, was dort in einer der Ecken lag. Ich erkannte zunächst nur etwas Dunkles, Unförmiges, doch dann ertönte das Stöhnen ein zweites Mal. Das Dunkle war ein Mensch … eine Frau.
Ich unterdrückte einen Aufschrei, sank neben ihr auf die Knie, aber wagte erst nicht, sie anzufassen. Sie lag auf dem Bauch, die Glieder schienen unnatürlich verrenkt, und um den Kopf herum hatte sich eine Blutlache ausgebreitet. Das Blut wirkte in dem diffusen Licht nicht rot, sondern schwarz.
Als zum dritten Mal das Stöhnen erklang, hob ich schließlich doch die Hand und berührte die Frau an den Schultern. Obwohl ich sie nur sehr zaghaft berührte, krümmte sie sich – vielleicht vor Schmerzen, vielleicht vor Schreck. Ihr Kopf kippte zur Seite, und ich konnte ihr Gesicht erkennen. Es war über und über mit dem schwarzen Blut verschmiert – und dennoch so vertraut.
Es war Susanna Orqual, die hier im Keller lag. Jemand hatte sie die Treppe hinuntergestoßen, sie schwer verletzt liegen lassen und hinter ihr die Kellertür verschlossen.
Ich wollte ihr nicht noch mehr Schmerzen zufügen und zog hilflos meine Hände zurück. Ich hätte ihr gerne das Gesicht abgewischt, ihre Wunden untersucht, aber ich hatte Angst, alles noch viel schlimmer zu machen. Ihr Mund war verzerrt, ihre Augen glasig.
»Susanna!«, rief ich. Ich hatte sie noch nie mit dem Vornamen angesprochen, doch in diesem Augenblick war es ganz selbstverständlich. »Susanna! Erkennen Sie mich? Ich bin es! Sophie … Sophie Richter!«
Zunächst schien es, als würden meine Worte sie nicht erreichen. Die glasigen Augen starrten an mir vorbei, das Stöhnen verstummte.
Ich drehte mich zu Caspar um.
»Was stehst du einfach da?«, fuhr ich ihn an. »Tu doch etwas! Ruf einen Krankenwagen!«
Er zuckte nur mit den Schultern, hob dann abwehrend die Hände. Ich wollte nicht wahrhaben, was er wohl schon auf den ersten Blick erkannt hatte – dass es für Susanna keine Rettung mehr gab und dass es uns nur unnötig aufhalten würde, wenn wir Hilfe holten.
»Wir können sie doch nicht einfach …«, setzte ich an – und verstummte schlagartig. Susannas Mund verzerrte sich noch weiter. Sie stöhnte nicht mehr, aber versuchte etwas zu sagen. Erstickte Laute waren zu hören.
»Susanna!«, rief ich. »Susanna, was ist geschehen? Was …«
Ich beugte meinen Kopf ganz dicht über ihren Mund und glaubte, nun tatsächlich etwas zu verstehen.
»Sie haben ihn geholt … einfach geholt. Er erträgt es nicht … in seinem Zustand.«
Ich hatte wieder das Bild des umgekippten Rollstuhls vor Augen. »Aber warum?«, fragte ich verzweifelt. »Was wollen sie von ihm?«
»Habe versucht … gekämpft … wollte ihn schützen …
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