Der Fluch der Abendröte. Roman
Haben mich zurückgestoßen.«
Jedes einzelne Wort war eine Qual und raubte ihr unendlich viel von der schwindenden Lebenskraft.
»Sie brauchen einen Arzt«, rief ich. »Wir müssen Sie unbedingt …«
Ihr Atem klang rasselnd. Blut floss über ihre Lippen, heller und klarer als die dunkle Masse, die sich um ihren Kopf ausgebreitet hatte.
»Nein«, quälte sie sich zu sagen, »zu spät … keine Hilfe mehr möglich … aber Sie … Sie müssen ihn suchen … müssen ihn befreien … in seinem Zustand … er erträgt es doch nicht.«
»Warum hat man ihn entführt?«
Noch mehr Blut floss über ihre Lippen, nein, schoss förmlich hervor. Ihre eben noch glasigen Augen weiteten sich, schienen förmlich aus den Höhlen zu treten. Ich wusste nicht, was ihr noch einmal diese Kraft gab, aber plötzlich hob sie ihre Hand und umklammerte meine schmerzhaft fest.
»Er … weiß … alles.«
Sie atmete rasselnd aus – ein gequältes, langgezogenes Geräusch. Als es verstummt war, löste sich ihr Griff und fiel schlaff auf ihre Brust zurück. Die weitaufgerissenen Augen waren starr – und leer.
»Marian!«, schrie ich, obwohl ich wusste, dass sie tot war. »Wo ist Marian? Hat er miterlebt, was hier geschehen ist? Und was weiß Ihr Mann?«
Meine Worte verhallten im Keller, und dann war da nichts mehr, nur Stille, die Stille des Todes, erdrückend und absolut.
Ich weiß nicht, wie lange ich neben Susannas Leichnam hockte und ihn hilflos betrachtete. Als ich endlich aufstehen konnte, schoss kribbelnd Blut in meine eben noch abgeknickten Glieder. Ungeachtet des Moders und der Spinnweben lehnte ich mich gegen eine der Wände und schloss die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, hielt mir Caspar etwas vors Gesicht. Ich konnte nicht erkennen, was es war, nur, dass es über und über mit dem zähen, dunklen Blut bedeckt war.
»Das hat sie in der Hand gehalten!«, sagte er triumphierend. »Sie hat es losgelassen, als sie dich gepackt hat!«
Er hielt es ins Licht der Glühbirne, so dass ich es eingehender betrachten konnte: Es war ein Stück Papier.
Das Papier war völlig zerknüllt. Susannas Finger mussten es mit ganzer Kraft festgehalten haben. Als wir es etwas geglättet hatten, waren vor allem Blutflecken zu sehen, die einzelnen Worte, die darauf geschrieben standen, jedoch so blass, dass man sie bestenfalls erahnen konnte, auch dann noch, als wir das Papier ganz dicht an die Glühbirne heranhielten. Ich wollte schon enttäuscht resignieren, als Caspar plötzlich sagte: »Warte!«
Er benetzte seine Finger mit Speichel und strich dann mehrmals über den Zettel.
»Du verwischst doch alles noch mehr!«, rief ich.
»Wenn es tatsächlich Papier wäre, dann ja«, erwiderte er, »aber es ist kein Papier, sondern … Pergament.«
Ich hatte mich schon von ihm abgewandt, nun trat ich wieder näher und befühlte diesen Fetzen noch einmal. Er schien tatsächlich etwas ledrig zu sein, und Caspars Speichel hatte ihn nicht aufgeweicht, sondern diese grau anmutenden Schriftzeichen etwas klarer hervortreten lassen. Es war eine sehr ungewöhnliche Schrift, die mich ein wenig an karolingische Minuskeln erinnerte. Mühsam entzifferte ich einzelne Worte, aber sie ergaben keinen Sinn.
August.
Beschluss.
SAR .
Fluch.
Was sollte das bedeuten?
Ich beugte mich tiefer über das Pergament und fuhr mit dem Finger über die Zeilen – genauso wie Caspar, wodurch sich unsere Hände kurz berührten. Ich zuckte zurück.
»Kannst du das lesen?«, fragte ich rasch.
Das Pergament war nicht nur mit Blut verschmiert, sondern auch von vielen bräunlichen und schwarzen Flecken übersät, so als wäre das Schriftstück zu lange zu feucht gelagert worden. Insbesondere an den Rändern wurde die Schrift so durchsichtig, als hätte jemand das Pergament abgeschabt.
»Also?«, fragte ich, als er nicht antwortete. »Kannst du es entziffern?«
Er zuckte mit den Schultern, aber erklärt dann: »Das scheint eines der Protokolle zu sein.«
Er sprach das Wort beinahe ehrfürchtig aus, aber fügte nichts hinzu.
»Protokolle?«
Jetzt verstand ich zumindest, was das Wort »August« bedeutete – offenbar war das das Datum, an dem dieses Schriftstück entstanden war.
»Was sind Protokolle?«, drängte ich.
Wieder zuckte er mit den Schultern. »Die Alten treffen sich regelmäßig zum Rat. Dort werden zu strittigen Punkten Beschlüsse gefasst – und diese dann in den Protokollen festgehalten. Sie werden immer noch auf Pergament geschrieben so wie
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